Keine medizinischen Fachkräfte: In Frankreich eröffnen Ärzte im Ruhestand eine Praxis

Keine medizinischen Fachkräfte: In Frankreich eröffnen Ärzte im Ruhestand eine Praxis

Yves Carcaillet war gerade erst ein Jahr im Ruhestand, als er von seiner Stadt gebeten wurde, wieder zu arbeiten. "Ich war 45 Jahre lang Arzt und fand es sehr schmerzhaft, meine Patienten zu verlassen, vor allem, wenn ich wusste, dass sie Schwierigkeiten haben würden, einen anderen Arzt zu finden, der sie übernimmt", so der 74-jährige Mediziner gegenüber Euronews Next.

Carcaillet ist jetzt einer von acht Ärzten im Alter zwischen 69 und 78 Jahren, die in der südfranzösischen Stadt Albi eine Klinik betreiben, um den Mangel an medizinischen Fachkräften in der Region zu beheben. Die Praxis ist die erste ihrer Art und wurde Ende Juni eröffnet. "Wir arbeiten sehr gerne zusammen, es herrscht eine sehr entspannte Atmosphäre", so Carcaillet.

Yves Carcaillet
Dr. Yves Carcaillet in seiner Praxis - Yves Carcaillet

In der neuen Klinik arbeiten die pensionierten Ärzte in Vier-Stunden-Schichten, was ihnen ein gewisses Maß an Freiheit ermöglicht. "Unsere Stundenpläne sind sorgfältig zusammengestellt, so dass jemand, der sich um seine Enkelkinder kümmern muss, dies tun kann", sagt Carcaillet.

Die Praxis nimmt insgesamt 50 Termine pro Tag an. Doch sie dient den Patientinnen und Patienten nicht als "Hausarzt", sondern hilft denjenigen, die schnell einen Termin benötigen.

"Wir hatten einen Patienten, der von seinem Hausarzt eine sechswöchige Wartezeit für einen Termin bekam. Wir konnten ihn noch am selben Tag empfangen. Wir sind hier, weil wir der Gemeinschaft etwas zurückgeben wollen", erklärt Carcaillet.

Euronews
Albi im Département Tarn - Euronews

"Die Eröffnung der Praxis brachte ein Gefühl der Gelassenheit in die Stadt. Die Menschen waren ängstlich und gestresst, wenn es darum ging, einen Termin beim Arzt zu bekommen", fügt er hinzu.

Obwohl die Stadt Albi nicht als Gebiet mit extremem Ärztemangel eingestuft wurde, sind viele Gebiete im Departement Tarn akut betroffen.

Einem Bericht des französischen Senats zufolge sind 11 Prozent der Bevölkerung ohne Hausarzt, ein Problem, das in ganz Frankreich verbreitet ist.

Ein neues Leben für Ärzte im Ruhestand

Die neue Praxis kommt nicht nur bei den Patientinnen und Patienten gut an, sondern auch bei den Ärztinnen und Ärzten im Ruhestand, die sich immer häufiger bewerben. Um angestellt zu werden, müssen Mediziner:innen im Ruhestand ein strenges Einstellungsverfahren durchlaufen.

"Wir müssen sicherstellen, dass die Ärzte in der Lage sind, ihren Beruf auszuüben, und dass ihre medizinischen Kenntnisse auf dem neuesten Stand sind. Wir mussten auch einige IT-Schulungen durchführen", erklärt Dr. Etienne Moulin, der Gesundheitsberater der Region. "Es sieht so aus, als würde die Praxis mit Verlust arbeiten, aber die Stadt wird diesen Fehlbetrag höchstwahrscheinlich ausgleichen", so Moulin.

Das örtliche Krankenhaus beschäftigt drei Arzthelferinnen, die den Ärzten zur Seite stehen und für den reibungslosen Ablauf in der Praxis sorgen. Die dort arbeitenden Medizinerinnen und Mediziner werden über eine von ihnen gegründete gemeinnützige Organisation, die Vereinigung der pensionierten Ärzte von Albi, bezahlt. Diese Regelung wurde von der französischen Regierung und der regionalen Gesundheitsbehörde exrtra genehmigt.

Weit verbreiteter Ärztemangel in Frankreich

Einer Regierungsstudie aus dem Jahr 2017 zufolge wird der Ärztemangel in Frankreich voraussichtlich im Jahr 2024 seinen Höhepunkt erreichen und sich erst ab 2030 wieder stabilisieren. Landesweit lag das Durchschnittsalter der Ärzte im Jahr 2018 bei 51 Jahren, wobei 30 Prozent der Ärzte über 60 Jahre alt waren.

Im Oktober 2022 forderte Präsident Emmanuel Macron kurz vor dem Rentenalter stehende Ärzte auf, weiter zu arbeiten, und bot in einem Interview mit dem Fernsehsender France 2 Anreize für Rentenleistungen an.

Yves Carcaillet
Sprechstunde in einer Praxis in Albi - Yves Carcaillet

Laut Dr. Etienne Moulin gibt es mehrere Faktoren, die die Krise beeinflusst haben. "Die Generation der Babyboomer, die sich in den 1970er Jahren in ganz Frankreich niedergelassen hat, geht jetzt in den Ruhestand", sie werde nicht ersetzt, sagt Moulin.

Er führt dies zum Teil auf einen Generationswechsel zurück, bei dem jüngere Ärzte bessere Arbeitsbedingungen fordern. "Sie wollen nicht mehr 70 Stunden und an sechs Tagen in der Woche arbeiten", so Moulin.

Zurück in der Klinik steht für Carcaillet eines fest, man wolle nicht versuchen, "mit unseren jungen Kollegen zu konkurrieren". Man werde an dem Tag schließen, "an dem sie hier eine Praxis eröffnen wollen", sagt Carcaillet. "Vorerst aber werden wir uns weiterhin für die Gemeinschaft einsetzen und das mit großer Freude".