Der Eklat, der Fußball-England in Brand steckte
26 Jahre ist der Paukenschlag mittlerweile her - und noch immer hallt er nach im Mutterland des Fußballs.
Vom „größten Kader-Erdbeben in der Geschichte der Three Lions“ schrieb die Daily Mail erst vor wenigen Tagen in einem großen Feature über die spektakuläre Ausbootung, die vor der WM 1998 den damaligen Superstar des englischen Nationalteams traf: Paul Gascoigne.
Die nun ebenfalls breit diskutierte EM-Ausbootung von Jack Grealish und Harry Maguire ruft bei vielen den bitteren Eklat in Erinnerung, der sich als das bittere Ende der Nationalmannschaftskarriere von „Gazza“ entpuppen sollte.
Was genau aber war damals eigentlich passiert?
Paul Gascoigne: Englands tragisches Genie
Zur Erinnerung für alle, die ihn nicht mehr vor Augen haben: Paul John Gascoigne, in Armut aufgewachsener Sohn eines Maurergehilfen und einer Fabrikarbeiterin aus Gateshead bei Newcastle, war DER englische Fußballer seiner Generation.
„Gazza“, benannt nach den Beatles-Ikonen Paul McCartney und John Lennon, war ein begnadetes Fußball-Naturtalent, ein genialer Spielmacher, ein unverwechselbarer Typ, der die Massen begeisterte. Aber auch seit frühester Jugend einer, der mit seinem Verhalten außerhalb des Platzes ständig in den Schlagzeilen stand.
Als „George Best ohne Gehirn“ beschrieb ihn einmal Stan Seymour Jr., ehemaliger Chef von Gascoignes Heimatverein Newcastle United, der sich mit vielen Eskapaden des jungen Gascoigne befassen musste: Alkoholexzesse, Gewichtsprobleme, Spielsucht, häusliche Gewalt, Konflikte mit dem Gesetz.
Trotz oder gerade auch wegen seiner Skandalgeschichte entwickelte sich Gascoigne zu Englands populärstem Fußball-Phänomen, diverse Höhe- und Tiefpunkte waren auch eng mit der Geschichte des DFB-Teams verbunden.
Triumph und Drama bei WM 1990 und Heim-EM 1996
Bei der WM 1990 in Italien legte Gascoigne - bis dahin ohne Startelf-Einsatz für England - einen Senkrechtstart hin, war als torgefährlicher Taktgeber maßgeblich daran beteiligt, dass die „Three Lions“ bis ins Halbfinale vordrang. Teamkollege Bryan Robson war gar der Ansicht, dass Gascoigne damals Diego Maradona als bester Spieler der Welt Konkurrenz machte - dem tragischen Genie von der anderen Erdhalbkugel.
Wie für Maradona endete auch für Gascoigne die WM mit einem Drama gegen Deutschland: Jeder Fan in der Heimat litt mit, als sich „Gazza“ mit einem Foul gegen Thomas Berthold eine Gelbe Karte einhandelte, die ihm im Fall eines Weiterkommens das Finale gekostet hätte, und danach Tränen in den Augen hatte. Bekanntermaßen spielte es nach den Fehlschüssen von Stuart Pearce und Chris Waddle im Elfmeterschießen keine Rolle mehr.
Sechs Jahre später bot die Heim-EM in England die nächste legendäre „Gazzamania“: Einmal mehr war Gascoigne Schlüsselakteur auf dem Weg ins Halbfinale - vor allem sein irrwitziges Volleytor in der Vorrunde gegen Schottland ist unvergessen. Einmal mehr wurde er gegen den späteren Turniersieger Deutschland zum tragischen Helden, als er in der Verlängerung vor dem leeren Tor den Ball und den möglichen Siegtreffer verpasste. Der nächste berühmte K.o. im Elfmeterschießen folgte („Gareth Southgate, the whole of England is with you …“).
Vor der WM 1998 in Frankreich war der Revanchedurst in Fußball-England riesig – „no more years of hurt, no more need for dreaming“. Und in den Träumen der Fans war die Bühne für das nächste große Gazza-Spektakel bereitet („Ince ready for war, Gazza good as before“) - doch alles kam anders.
Der ultimative Eklat vor der WM 1998
Zwischen den beiden Großturnieren durchlebte Gascoigne bei den Glasgow Rangers zwei turbulente und sportlich wechselhafte Jahre, in denen seine Leistungen zunehmend beeinträchtigt von seinen persönlichen Problemen schienen - was auch seine Position beim damaligen Nationaltrainer Glen Hoddle schwächte.
Hoddle hielt sich die Entscheidung in Bezug auf Gascoigne bis zuletzt offen, nahm den damals 31-Jährigen wenige Wochen vor Turnierstart mit ins Trainingslager ins spanische La Manga. Dass Gascoigne sich auch dort einen Alkoholabsturz kurz vor der Kadernominierung leistete - plus zwei schwache Auftritte in den Testspielen gegen Marokko und Belgien - besiegelte sein Schicksal. „Ich war sehr betrunken, weil ich acht, neun Tage vorher nichts getrunken hatte“, war Gascoignes Begründung.
Die Ausbootung mündete dann im quasi ultimativen Eklat: Als Hoddle Gascoigne zum Einzelgespräch im Teamhotel bat, drehte „Gazza“ völlig durch und verwüstete Hoddles Zimmer, ehe ihn die Teamkollegen Paul Ince und David Seaman aus dem Raum zerrten.
Gascoigne musste von Teambetreuern mit Valium beruhigt werden und trat sich bei seinem Ausraster selbst das Bein blutig. Gascoigne - in englischen Medien oft verglichen mit einem alternden Western-Helden, der es noch ein letztes Mal wissen wollte - ließ den Saloon in Flammen aufgehen.
Das Ende von „Gazzamania“ spaltet England bis heute
Ohne „Gazza“ im emotionalen Zentrum lief die WM für England nicht glücklicher als die vorherigen Turniere, im Gegenteil: Bereits im Achtelfinale gab es gegen Argentinien das nächste Drama-Aus im Elfmeterschießen, tragischer Held diesmal ein gewisser David Beckham, der nach einem Revanchefoul gegen einen gewissen Diego Simeone mit Rot vom Platz flog.
Ob es mit Gascoigne anders gelaufen wäre, weiß niemand. Bis heute ist Englands Fußball-Gemeinschaft in etwa zwei gleich große Lager geteilt. Die einen teilen Hoddles Einschätzung, dass Gascoigne den Wahnsinn schlicht zu weit getrieben hatte und untragbar für sein Team geworden war. Die anderen glaubten und glauben noch immer: Die „Three Lions“ waren ohne Gascoignes Genie aufgeschmissen, Hoddle hätte den Wahnsinn aushalten müssen.
So oder so: Der Eklat von La Manga erwies sich für Gascoigne als das bittere Ende seiner Nationalmannschaftskarriere - eine tragische Figur ist der heute 57-Jährige geblieben.
Gascoignes Leben nach dem Fußball ist von seinem nie überwundenen Alkoholismus und damit verbundene psychische Probleme geprägt. „Ich war früher ein glücklicher Trinker, heute bin ich ein trauriger Trinker“, fasste Gascoigne vor einiger Zeit seine Lebenssituation zusammen.
Der Kampf „Gazzas“ gegen seine persönlichen Dämonen ist immer wiederkehrendes Thema im britischen Boulevard - die Erinnerung an den fiebrigen Mythos „Gazzamania“ ist in seiner Heimat bis heute hellwach.