Kommentar: Aiwanger stolpert nicht über Vergangenes, sondern über seine Gegenwart

Bayerns Vize-Ministerpräsident ist mit Vorwürfen aus seiner Schulzeit konfrontiert: Er habe sich rechtsextrem geäußert. Doch wie sich Hubert Aiwanger dazu heute verhält, zeigt kein Interesse an einer kritischen Aufarbeitung – als wäre er noch in den Achtzigern.

Ein Kommentar von Jan Rübel

Wahlplakate mit Hubert Aiwanger im August in München (Bild: REUTERS/Leonhard Simon)
Wahlplakate mit Hubert Aiwanger im August in München (Bild: REUTERS/Leonhard Simon)

In diesen Tagen vermasselt Hubert Aiwanger seine politische Zukunft. Er findet keinen angemessenen Umgang mit Vorwürfen, welche die „Süddeutsche Zeitung“ seit dem 25. August publik gemacht hat. Der Chef der Freien Wähler, bayerische Wirtschaftsminister und stellvertretende Ministerpräsident soll in seiner Jugend, um es einmal salopp auszudrücken, reichlich abgehitlert haben.

Damals, in der Klasse 11 der Schulzeit 1987/1988, sei er mit Flugblättern in seiner Tasche erwischt worden. Ihr Inhalt war übelste judenfeindliche Vernichtungsphantasie. Die „SZ“ vermutete ihn als Autoren. Zumal weitere Zeugenaussagen auftraten, die angaben, er habe damals offen rechtsextreme Ansichten vertreten, damit geprahlt, Hitlerreden vor dem Spiegel zu üben und „Mein Kampf“ gelesen zu haben.

Im Lauf der folgenden Tage meldeten sich weitere Zeitgenossen aus Aiwangers Schulzeit. Im „Bayerischen Rundfunk“ sagte ein Mitschüler, Aiwanger habe beim Betreten des Klassenraums öfter den Hitlergruß gezeigt, seinen Slang nachgemacht und judenfeindliche Witze gemacht. Dann legte die „SZ“ nach und schrieb von einer Mitschülerin, Aiwanger habe oft Hitlers „Mein Kampf“ in der Schultasche mit sich geführt. Sie könne dies bestätigen, weil sie das Buch selbst in der Hand gehalten habe.

Es ist also davon auszugehen, dass der 15-jährige Aiwanger in seinem Umfeld eine Rolle einnahm, die mal als „den Nazi“ beschreiben muss. Er gab sich machtvoll (wie einst Hitler) und teilte gegen Menschengruppen aus (Juden). Hoffen wir, dass sich der heutige Aiwanger meilenweit von den Haltungen seiner Jugend entfernt hat. Auch wenn festzustellen ist, dass niemand ihn damals gezwungen haben wird, sein Profil mit solch einer miesen Nummer zu schärfen. Auffallen kann man auch auf angenehmere Art. Ich bin gleichaltrig, komme auch aus ländlichem Milieu – damals wurde schlimmer und unbefangener mit Faschismus umgegangen, die Naziherrschaft lag noch näher im Nacken. Wer indes den Hitlergruß zeigte und Judenwitze erzählte, der war vielleicht nicht sofort „unten durch“, fiel aber auf. Und Aiwanger war kein Sechsjähriger mehr. Er wusste, was er tat.

Zeit für Butter bei die Fische

Nun also, als Vorsitzender einer demokratischen Partei und mit viel Verantwortung in der Gesellschaft, wäre von Aiwanger vieles zu erfragen. Wieso war er damals so drauf? Wie stark hatte er Faschismus verinnerlicht? Gab es dann irgendwann einen Sinneswandel, eine Veränderung? Und wenn ja, warum? Wie sah das aus? Wie sieht er das heute, mit dem Abstand? Was hält der heutige volksnahe "Hubsi" vom damaligen Hubert, dem vermeintlichen Hobbyführer?

Doch Aiwanger stolpert gerade über sich selbst.

Die gute Laune dürfte Hubert Aiwanger angesichts der Vorwürfe gegen ihn momentan vergangen sein. (Bild:  REUTERS/Andreas Gebert)
Die gute Laune dürfte Hubert Aiwanger angesichts der Vorwürfe gegen ihn momentan vergangen sein. (Bild: REUTERS/Andreas Gebert)

Mitte August, also zwei Wochen vor Veröffentlichung, konfrontierte die „SZ“ Aiwanger mit ihren Recherchen. Er hätte sich also vorbereiten können, eine umfangreiche Stellungnahme, eine echte Erklärung abgeben können. Doch stattdessen mauerte er, ließ die Zeitung auflaufen und drohte mit Anwälten.

Dann, als die Sache draußen war, ging er wieder auf Tauchstation. Gegenüber dem „Spiegel“ distanzierte er sich „vollends“ von dem Papier. Sein Bruder übernahm Autorenschaft für das Schmierblatt mit dem mörderischen Menschenhass. Auf seinem "X"-Profil schrieb dann Aiwanger: „#Schmutzkampagnen gehen am Ende nach hinten los. #Aiwanger“. Eine Schmutzkampagne führt, wer Falsches schreibt. Bisher aber hat Aiwanger die Vorwürfe nicht widerlegt, im Gegenteil. Der „Bild“-Zeitung sagte Aiwanger zum Vorwurf, den Hitlergruß gezeigt zu haben: „Mir ist nicht im Entferntesten erinnerlich, dass ich so etwas gemacht haben soll.“ Und gegenüber der Nachrichtenagentur „DPA“: „Ich war noch nie Antisemit oder Extremist.“ Weiter: „Vorwürfe gegen mich als Jugendlicher sind mir nicht erinnerlich, aber vielleicht auf Sachen zurückzuführen, die man so oder so interpretieren kann.“

So oder so. Meint er den Hitlergruß mit 45 Grad Winkel oder mit 46 Grad? Meint er „Witze“ über Schornsteine oder welche über Öfen?

Larifari geht nicht mehr

Dann fing ihn „Welt TV“ am Rande einer Veranstaltung ab. „Es ist auf alle Fälle so, dass vielleicht in der Jugendzeit das eine oder andere so oder so interpretiert werden kann, was als 15-Jähriger hier mir vorgeworfen wird“, sagte er. Aha. Dieses „so oder so“ klingt nach einem andauernden schlichten Verwässerungsmanöver. Das fiel auch Aiwanger wohl auf. Daher schob er nach: „Aber auf alle Fälle, ich sag' seit dem Erwachsenenalter, die letzten Jahrzehnte: kein Antisemit, kein Extremist, sondern ein Menschenfreund.“ Das war vielleicht ehrlich. Dass er vielleicht irgendwann kein Antisemit und kein Extremist mehr war. Darüber hätte man gern mehr erfahren.

Aiwanger beendete seinen Kameraauftritt mit den Worten, er könne „für die letzten Jahrzehnte alle Hände ins Feuer legen“. Was aus Jugendzeiten nun diskutiert werde, wundere ihn etwas. Das ist bemüht. Wie viele Hände hat er, legt er mehr als zwei ins „Feuer“? Und die Jugendzeit liegt für einen 52-Jährigen nicht Lichtjahre zurück – zumal es Fragen zu seinem damaligen politischen Verhalten gibt und er eben heute mit Politik sein Geld verdient. Da hat ihn gar nichts zu wundern.

Aiwanger aber mauert. Er setzt sich nicht hin und erzählt, was damals war. Seine Auseinandersetzung erinnert exakt an jene Verdruckstheit, mit der Deutschland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die erste Hälfte zu verdrängen versuchte. Aiwanger handelt gerade definitiv nicht ehrlich. Entweder da war was, früher, oder nicht. Dies hinter die Gardine des „nicht Erinnerlichen“ zu schieben, ist für einen Politiker in der Öffentlichkeit zu wenig.

Wenn Aiwanger so weitermacht, landet er in der Sackgasse. Es gibt keine Kampagne gegen ihn, auch keine Hexenjagd. Aiwanger muss erklären, ob er etwas aus seiner Vergangenheit verheimlicht hat oder nicht. Ob er etwas reflektiert hat oder nicht. Und wie viel Hitler in ihm steckt.

Im Video: Isch over? Antisemitisches Flugblatt als "Jugendsünde": Aiwanger sieht"Schmutzkampagne"