Kommentar: Boris Palmer darf weiter spuken

Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer und die medizinische Beraterin der Stadt Lisa Federle bei der Vorstellung ihres Coronaschutzprojekts im März 2021 (Bild: REUTERS/Kai Pfaffenbach)
Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer und die medizinische Beraterin der Stadt Lisa Federle bei der Vorstellung ihres Coronaschutzprojekts im März 2021 (Bild: REUTERS/Kai Pfaffenbach)

Tübingens Oberbürgermeister gewinnt wieder die Wahl – obwohl seine Grünen ihn gar nicht mehr wollten. Boris Palmer wird weiter nerven, nebenbei die Stadt gut regieren – und hoffentlich weniger auffallen wollen.

Ein Kommentar von Jan Rübel

Am Ende einer kurzen Erklärung, nach der gewonnenen Wahl, hatte Boris Palmer eine Bitte: „Wenn ich Sie in den letzten 16 Jahren verärgert habe – verzeihen Sie mir.“ Das war ehrlich wie angemessen.

Denn einerseits hat Tübingens Oberbürgermeister bei seiner Wiederwahl am vergangenen Sonntag die Ernte seiner erfolgreichen Arbeit als OB eingefahren. Und andererseits ist er tatsächlich nicht Wenigen auf die Nerven gegangen – entweder wenn er als Sheriff nachts Fahrradfahrer anhielt oder wenn er in seinem Drang, irgendwie aufzufallen oder anders als die anderen zu sein, kräftig die Wirklichkeit verbog und andere Menschen verletzte.

Palmer ist ein doppelgesichtiges Phänomen. Das eine regiert die Unistadt seit 2006 und hat den wohlhabenden Ort noch zufriedener gemacht. Der Wissensstandort wurde ausgebaut, eine Menge an nachhaltigen Jobs geschaffen. Im Klimaschutz ist Tübingen Vorreiter, spart Energieverbrauch ein wie kaum eine andere Kommune und erzeugt einen Großteil seines Bedarfs selbst – Tübingen ist grün. Auch Palmer ist grün, Parteimitglied, obwohl er seinen Status ruhen lassen muss, denn die Grünen waren mächtig sauer auf ihn. Palmer ist nicht nur Lokalpolitiker mit einem steten gefühlten Blutdruck um 160. Er ist nicht nur authentisch und lösungsorientiert, er sitzt auch großen Irrtümern auf. Und die machten ihn über die Sozialen Medien bundesweit bekannt.

Eine Menge Ticks

Zum Beispiel ist Palmer besessen von Hautfarben. Die meint er zuweilen hervorheben zu müssen. Mal mutmaßte er über einen Fahrradfahrer, ob er Asylbewerber sei, dann sah er in einem Werbebild der Bahn nicht die Gesellschaft abgebildet (wieder wegen den Farben), dann setzte er seine selbstverstandene Satire ein, um rassistisches Zeug in die Welt zu setzen – vorgeblich, um der seiner Meinung nach ausufernden Cancel Culture gegenüber Widerstand zu leisten. Diese Denk- und Sprechverbote existieren eher in der Welt jener, die sie bekämpfen. Und Palmer gehört dazu, denn das Wort würde er sich nie verbieten lassen. Er ist ein Widerborst, ein enfant terrible, einer, der wie beim Film „Das Leben des Brian“, in dem eine monotone Menschenmenge ruft: „Wir sind alle Individuen“, allein dazwischenkommentiert: „Ich nicht.“

Worte zeigen Wirkung

Das ist für die Demokratie und die Willensbildung notwendig. Daher werden solche Palmers gebraucht. Nur stimmt offenbar etwas nicht mit dem menschlichen Kompass, denn ansonsten würde ein Palmer nicht auf andere Menschen verletzend wirken, dann hätte er bessere Antennen für Anstand. Palmer braucht mehr Potenzial, sich zurückzunehmen. Sich selbst weniger wichtig zu nehmen. Mehr Demut. Dann wird es auch wieder, mit der gegenseitigen Befruchtung zwischen dem Lokalgenie Palmer, der Partei der Grünen und der beide einenden Überzeugung, den Umweltzerstörungen nicht zuzusehen.

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