Kommentar: Boris Palmers Aussagen über ältere Menschen in Corona-Zeiten sind bedenklich

Boris Palmer erntet mit Äußerungen zur Corona-Krise Kritik. (Bild: Christoph Soeder/dpa)
Boris Palmer erntet mit Äußerungen zur Corona-Krise Kritik. (Bild: Christoph Soeder/dpa)

Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer hat sich mit drastischen Worten zur Corona-Krise geäußert. Was der Grünen-Politiker dabei für ein Welt- und Menschenbild zum Ausdruck bringt, ist äußerst bedenklich.

Ein Kommentar von Carlos Corbelle

Palmer hatte sich schon zuvor für eine Lockerung der Corona-Beschränkungen in Deutschland ausgesprochen und fordert strenge Quarantäne-Maßnahmen für Risikogruppen bei gleichzeitig größerer Freiheit für alle anderen. “Ich habe darauf hingewiesen, dass die Methode unseres Schutzes so schwere Wirtschaftsschäden auslöst, dass deswegen viele Kinder sterben müssen”, betonte er auch jetzt gegenüber der Nachrichtenagentur dpa. “Das will ich nicht hinnehmen und fordere einen besseren Schutz für unsere Risikogruppen ohne diese Nebenwirkungen.”

Darüber kann man diskutieren. Was er aber am gestrigen Dienstag im “SAT.1 Frühstücksfernsehen” von sich gab, ist eine ganz andere Nummer. “Wenn Sie die Todeszahlen durch Corona anschauen, dann ist es bei vielen so, dass viele Menschen über 80 sterben - und wir wissen, über 80 sterben die meisten irgendwann”, sagte er dort. Und: “Ich sag es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären.”

Was will er damit sagen? Dass jegliche Anstrengungen, die derzeit angesichts des Corona-Krise unternommen werden auch deshalb unangemessen seien, weil wir damit weniger rettenswertes - weil älteres - Leben retten? Ganz davon abgesehen, dass Palmer nicht wissen kann, ob der 80-Jährige von heute nicht 100 wird und der 50-Jährige von heute vielleicht leider nur 51, würde es selbst dann keine Rolle spielen, wenn er es wissen würde. Denn: Keiner hat zu entscheiden, welches Leben wertvoller ist - vollkommen unabhängig davon, wie lange dieses Leben anhält.

Die Logik, der Palmer damit folgt, ist die einer inhumanen, mathematischen Kälte, der zufolge sich der Wert eines Lebens nicht aus sich selbst heraus ergibt, sondern durch Wahrscheinlichkeitsrechnung rechtfertigen muss.

Palmer entschuldigt sich

Hinterher wollte Palmer das alles ja gar nicht so gemeint haben - nachdem es kurz darauf harsche Kritik gab, versteht sich. Auch in der eigenen Partei. So sagte unter anderem die Vorsitzende der Grünen-Fraktion im Bundestag, Katrin Göring-Eckardt, der Funke Mediengruppe: “Unsere Verfassung ist eindeutig: Menschenwürde heißt auch, dass die Gesundheit jedes Menschen geschützt wird. Egal, wie alt wir sind.”

Palmer tue es leid, falls er sich “missverständlich oder forsch ausgedrückt” hätte und betonte gegenüber der dpa: “Niemals würde ich älteren oder kranken Menschen das Recht zu leben absprechen.”

Coronavirus: Diese Internetseiten und Hotlines sollte man kennen

Es ist nicht das erste Mal, dass Palmer mit einer kontroversen Aussage provoziert, um nach der anschließenden Kritik zurückzurudern. So beschwerte er sich letztes Jahr über eine Werbekampagne der Deutschen Bahn, die mit Zuggästen unterschiedlicher Hautfarbe warb. Palmer sagte damals auf seiner Facebook-Seite dazu: “Ich finde es nicht nachvollziehbar, nach welchen Kriterien die „Deutsche Bahn“ die Personen auf dieser Eingangsseite ausgewählt hat. Welche Gesellschaft soll das abbilden?” Hinterher räumte er Fehler bei der Formulierung ein.

Das Problem ist nur: Palmer ist kein Anfänger. Der langjährige Politiker muss um die Wirkung seiner Worte wissen. Und wenn er in einer Fernsehsendung etwas von sich gibt wie “Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären”, schürt er damit ein Klima, das gerade angesichts der derzeitigen Krise verheerend sein kann. Denn sollte eine Gesellschaft damit anfangen, den Wert des Lebens je nach Alter unterschiedlich zu bemessen, hätte sie bald ein größeres Problem als das Coronavirus.

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