Kommentar: Die Kreuzigung des Jens Spahn
Rücktrittsforderungen wie eine Mauer: Der Bundesgesundheitsminister soll gehen, heißt es. Doch ihm wird angelastet, wofür er nichts kann. Nun rächt sich sein Ehrgeiz – und unsere Lust, uns schlechter zu reden, als wir sind.
Ein Kommentar von Jan Rübel
Für Politiker gibt es ein Pendel, das grausam mal in die eine, mal in die andere Richtung schwingt. Jens Spahn sieht es gerade schier unvermeidbar auf sich zu rasen – der Bundesgesundheitsminister steht, zählt man die Rücktrittsforderungen aus den anderen Parteien zusammen, kurz vor dem politischen Aus. „Die Leistungen von Herrn Spahn als Gesundheitsminister kann man nur mit einer Fünf oder Sechs bewerten“, zensiert Wolfgang Kubicki von der FDP. „Spahn ist seiner Aufgabe nicht gewachsen.“ Deutschland habe die Alten- und Pflegeheime nicht rechtzeitig geschützt, Spahn habe zu spät auf den Schutz durch Masken gesetzt, bei der Test- und Impfstrategie habe er auch versagt, so der FDP-Politiker.
Das ist starker Tobak, auch wenn er von der Opposition kommt. Doch auch der Regierungspartner holt weit aus: Zuvor hatte Thomas Kutschaty, Fraktions- und designierter Landesvorsitzender der SPD in NRW gesagt, dass Spahn nicht mehr tragbar sei. Er habe erst „bei der Beschaffung der Impfstoffe versagt, dann bei der Teststrategie“.
Wenig Substanz
Natürlich gibt es viel zu kritisieren. Aber die geballte Ladung Häme allein Spahn vor die Füße zu kippen, löst wenig. Und ungerecht ist es auch. Denn für die Beschaffung der Impfstoffe zeichnet die EU-Kommission verantwortlich, und bei der Teststrategie hatte Spahn lediglich eine zu laute Klappe: Er versprach vollmundig Schnelltests, nur um den Termin von der Kanzlerin persönlich kassiert zu kriegen. Das ist peinlich und sieht nicht gut aus – aber mehr nicht.
Für die Heime sind die Kommunen zuständig, und was den Einsatz von Masken angeht, musste die halbe Weltgemeinschaft seit Beginn der Pandemie dazulernen, Spahn inklusive.
Es scheint, als brauche unser Überdruss mit der Situation einen Sündenbock. Doch nichts würde sich verbessern, würde nun Spahn ausgetauscht werden. Es ist schon ein komischer Hang, uns mal in den Himmel zu loben und mal in Grund und Boden zu reden. Uns täte ein wenig Maßhalten gut.
Gerade ist Meckern angesagt. Im „Spiegel“ wird kokett eine „Nestbeschmutzung“ geschrieben, und anderswo wird aufgezählt, was alles nicht klappt: Wie es eben ist, wenn Investitionen in Infrastruktur und in Digitalisierung verschlafen werden, was übrigens ein alter und bestens bekannter Hut ist. Und dass Behörden im Föderalismus das Ping-Pong-Spiel als Lieblingssport betreiben, ist auch nicht gerade eine Breaking News. Nichts neues unter der Sonne, das Kreuz für Spahn können wir wieder in den Keller stellen.
Hin und Her
Außerdem geht gerade das Land nicht unter. Im Impfen läuft es schlecht, aber eben im internationalen Mittelmaß. Woanders gibt es ähnliche Freiheitsbeschränkungen wegen der Pandemie, und die Wirtschaft behauptet sich gerade als fast beängstigend robust. Wir sollten lernen, in den Spiegel zu schauen und nicht in Extreme zu verfallen: mal Selbstanklage, mal Selbstlob.
Gerne fallen wir aus allen Wolken, wenn jemand sich über unseren Mythos vom „Made in Germany“ zurecht lustig macht. Wir organisieren nicht besser als andere, wir arbeiten nicht mehr oder schneller als andere, wir sind auch nicht durch und durch Spaßbremsen in Sandalen.
Doch all dies nützt gerade Spahn nicht. Er ist jetzt dran. Seine privaten Moves rund um seinen Berliner Immobilienbesitzt, die Besetzungspolitik in seinem Ministerium, Spendendinner, die große Klappe zu Allerlei und der Ehrgeiz, der ihn in der Weihnachtszeit noch diskret vorfühlen ließ, ob doch die Kanzlerkandidatur für ihn drin ist – all dies summiert sich gerade zu einem Problem für ihn. Ehrgeiz in der Politik ist normal und notwendig. Aber Spahn überdrehte es.
Nun ist es an ihm, die Spule wieder aufzurollen. Oder er muss in die zweite Reihe.