Kommentar: Erdoğan wird mit leeren Händen dastehen – nur wann?

Wahlkampfwerbung in Istanbul mit dem Konterfei des türkischen Präsidenten Erdogan (Bild: REUTERS/Hannah McKay)
Wahlkampfwerbung in Istanbul mit dem Konterfei des türkischen Präsidenten Erdogan (Bild: REUTERS/Hannah McKay)

Am Sonntag ist Stichwahl in der Türkei. Die Bürger haben die Wahl zwischen Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seinem Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu. Alles läuft gerade auf den Amtsinhaber zu. Ein Unsicherheitsfaktor ist aber die Jugend. Und vor den selbst geschaffenen Problemen wird Erdoğan nicht endlos davonlaufen können.

Ein Kommentar von Jan Rübel

In der türkischen Bevölkerung gibt es einen immensen Bedarf nach konkreten Antworten. Wie kann ich die Familie ernähren, und zwar in einem Haus, das nicht einstürzen wird? Werde ich meine Heimat in zehn Jahren noch wiedererkennen – oder wird alles zubetoniert sein? All dies und die Frage, wie viel Freiheit im Alltag sich das Land zubilligt, sind auf dem Tablett. Die Angebote der aktuell herrschenden Politik sehen so aus: Die Inflation haben wir euch eingebrockt, weil wir eine Wirtschaftspolitik verbockten. Gegen die Erdbebengefahren unternahmen wir nichts, weil sichere Gebäude nicht wählen. Und was schert uns die Heimat – Beton sieht überall gleich aus. Zur Freiheit schließlich hat die regierende AKP eine arg einschränkende Beziehung: Stark religiös und Anderen diese Haltung aufdrängend, arbeitet das System unter Erdoğan weiter am konservativen Umbau der Gesellschaft, in der Loyalität mehr zählt als Leistung.

Um diese Mittelmäßigkeit zu verschleiern, hat Erdoğan auf ein in der Türkei altbewährtes Hausmittel zurückgegriffen, das er nicht erfunden hat: nationalistische Soße auf alles.

Newton als Wahlkampfmanager der türkischen Politik

Dieser ernüchternden Einleitung zum Trotz sieht es für den Autokraten im Hauptberuf und Demokraten im Ehrenamt Erdoğan an diesen Sonntag recht gut aus: Den ersten Wahlgang entschied er für sich, und die Opposition mit ihrem Kandidaten Kemal Kılıçdaroğlu steht geschwächt da; als wäre das erste Votum ein zu kräftezehrender Akt gewesen. Die Chancen stehen für Erdoğan gut. Die Menschen machen ihn offenbar nicht massenhaft für die von ihm selbst fabrizierten Fehler verantwortlich. Was ihnen wichtiger ist? Gute Frage. Vielleicht verbinden sie mit Erdoğan die Hoffnung, von einem starken Mann angeführt zu werden. Diese Rolle nämlich beherrscht er wie aus dem Effeff. Dem Land nach Zahlen geht es seit Jahren schlechter.

Und die Probleme werden sich auch nicht in Luft auflösen. Sie gehorchen den Gesetzen der Schwerkraft. Erdoğan hat sie erstaunlich lange in der Luft jonglieren können – aber dass sie ihm vor die Füße fallen werden, ist eine Frage der Zeit. Entweder bei dieser Wahl oder bei der nächsten.

Gradmesser Jugend

Denn Kılıçdaroğlu hat zwar für die Stichwahl eine dramatisch-tragische Kehrtwende seines ursprünglichen Wahlkampfes vollzogen und versucht gerade in seiner Verzweiflung, den Sultan in Ankara rechts zu überholen – Stichwort nationalistische Soße. Nicht zu vergessen ist dabei, dass Kılıçdaroğlu mit der CHP einer auch arg nationalistischen Partei vorsitzt, er die Stimmen von Minderheiten eh sicher hat und nun mit diesem Manöver mögliche Anhänger des Präsidenten zu umschmeicheln versucht. Für das politische Klima ist dies grausam, ob es sich in Wählerstimmen bezahlt macht, wird aber der Sonntag zeigen.

Gewonnen hat Erdoğan noch lange nicht. Die Jugend der türkischen Bevölkerung läuft ihm schon jetzt nicht in Scharen zu, wer will schon einen onkelhaften Sultan in seiner Gesellschaft haben? Dann lieber den netten Opi Kılıçdaroğlu. Und die junge Generation ahnt, wer die vom Präsidenten gekochte Suppe an Problemen auszulöffeln hat. Sie wird sich von ihm abwenden. Entweder mit einem Überraschungsergebnis an diesem Sonntag oder nur wenig später.