Kommentar: Für Angela Merkel schlägt heute die Stunde Null

Angela Merkel bekommt nach der Wiederwahl Blumen überreicht (Bild: REUTERS/Hannibal Hanschke)
Angela Merkel bekommt nach der Wiederwahl Blumen überreicht (Bild: REUTERS/Hannibal Hanschke)

Die Kanzlerin ist wiedergewählt worden. Dennoch erlebt sie heute einen Neustart – in eine für sie ungewisse Zukunft.

Ein Kommentar von Jan Rübel

Angela Merkel macht den Eindruck einer Marathonläuferin, die sich mühsam ins Ziel geschleppt hat, so lange dauerte diesmal die Regierungsbildung ihrer vierten Kanzlerschaft. Doch tatsächlich geht das Rennen für sie jetzt erst los: Politisches Kapital wie politische Schulden sind aufgebraucht, eine völlig neue Phase beginnt, als hätte man die Kanzlerin im Monopoly-Spiel zurück auf Los gesetzt. 364 Stimmen erhielt die CDU-Vorsitzende bei ihrer heutigen Wahl, benötigt wurden 355. Also verweigerten ihr 35 Abgeordnete aus Union und SPD die Gefolgschaft. Dies ist kein gutes Ergebnis, es ist mager, bescheiden und hätte auch in einem Desaster für Merkel enden können – aber schon in dem Moment, in dem diese Zeilen geschrieben werden, ist all dies Schnee von gestern.

Das Teflon ist weg

Vielleicht bedeutet dieser Setback eine Chance für Merkel. In dieser für sie vierten Legislatur in der Regierungsverantwortung könnte sie befreiter agieren, denn die Fronten sind geklärt. Ihr einst politisches Kapital als Ruf einer Konsens-Kanzlerin hat an Wert verloren. In den ersten zwei Dritteln ihrer Amtszeiten verstieg sich Merkel aufs Moderieren und Abwarten. Ihre eigenen Aussagen blieben ein Nullsummenspiel. So konnte Merkel stets den entscheidenden Zug zur rechten Zeit setzen, nachdem andere sich verzockt hatten. Das brachte ihr zwar das zweifelhafte Image ein, aalglatt zu sein, verhalf ihr aber zu politischen Grundsatzentscheidungen von großem Gewicht: Ob Energiewende, Abschaffung der Wehrpflicht oder die Bewältigung der Finanzkrise – solche Manöver zeugen nicht von Leichtgewicht, ganz unabhängig davon, wie man politisch zu diesen steht.

Es begann die Ära, in der die einen sie zur mächtigsten Politikerin der Welt hochstilisierten und die anderen sie als “Mutti” zu veräppeln meintent, in Wirklichkeit aber nur ihre eigene Frauenfeindlichkeit demonstrierten. Dass die Junge Alternative (JA), die Jugendorganisation der AfD, reihenweise “Mutti”-T-Shirts druckt und vertreibt, erklärt sich vor allem aus dem Umstand, dass die überwältigende Mehrheit in deren Basis und auch der Führungsspitze aus jungen Männer besteht. Die wissen es nicht besser.

Jedenfalls war Merkel oben angekommen. Und so unnahbar sie schien, so derb vergrößerte sich ihre Angriffsfläche mit der Entscheidung, im Sommer 2015 die Grenzen für Fliehende zu öffnen. Aller Unmut konzentriert sich seitdem auf ihre Person. Alles Teflon aus den ersten zwei Dritteln ihres Regierens ist nun mittlerweile abgeschmolzen.

Große Koalition ist auch ein Modell

Nun steht sie neu da. Wer sie heute inbrünstig hasst, wird von ihr nur schwerlich überzeugt werden. Die Grenzen sind gezogen. Lasten der Vergangenheit gibt es ebenso wenig wie einen Profit, und so könnte Merkel nun durchstarten, ihre Ansicht von Politik und von dem, was ihr wichtig dünkt, formulieren und sich ans Werk setzen.

Als Mannschaft hierfür dient ihr wieder eine Große Koalition, die längst nicht mehr so groß ist. Vielleicht kommen bald die Zeiten, in denen Union und SPD geeint in Wahlkämpfe gehen und es gerade noch schaffen, absolute Mehrheiten zu erringen. Wer heute ruft, die jetzige Neuauflage des Bündnisses zwischen CDU, CSU und SPD sei ein Schritt in die Vergangenheit, ein nostalgischer Blick auf verflossene Welten, der irrt. Regieren in Deutschland wird immer diverser, und in diesen kompliziert arrangierten Mobilees wird solch eine Koalition nie ein Auslaufmodell, sondern immer eine Option sein.

Auch liegt in dieser dritten konservativ-sozialdemokratischen Regierung unter Merkel eine Chance, die aktuellen Herausforderungen ohne das in Mode gekommene Tata anzugehen. Internationaler Handel, überhaupt transnationale Netzwerke zur Bewältigung von Krisen benötigen ruhige Sacharbeit. Die Minister, die heute vereidigt werden, können dazu ihren Beitrag leisten.