Kommentar: Karlspreis für Selenskyi – hat Wagenknecht mit ihrer Kritik recht?

People shelter inside a subwBei einem Luftangriff auf Kiew suchen diese beiden Personen Schutz in einem U-Bahntunnel (Bild: REUTERS/Alina Smutko)y station during an air raid alert, amid Russia's attack on Ukraine, in Kyiv, Ukraine May 4, 2023. REUTERS/Alina Smutko     TPX IMAGES OF THE DAY
Bei einem Luftangriff auf Kiew suchen diese beiden Personen Schutz in einem U-Bahntunnel (Bild: REUTERS/Alina Smutko)

Die ukrainische Bevölkerung und ihr Präsident sollen den Karlspreis gewinnen – wegen ihrer Verdienste um die Einheit Europas. Sahra Wagenknecht gefällt dies nicht. Dabei verwechselt sie geflissentlich Täter mit Opfer. Es passt ihr halt.

Ein Kommentar von Jan Rübel

Sahra Wagenknecht sagt oft, man müsse mehr differenzieren. Offen sein für Kritisches. Dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi in den westlichen Medien meist wie ein Superheld durchkommt, gefällt ihr kaum. Differenzieren! Doch die Noch-Linken-Politikerin verwischt selbst jeden Grauton zu einem Schwarz oder Weiß. Bei den Ukrainern wägt sie nicht zwischen Details ab, sondern sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht.

Daher überrascht ihre Kritik an der Verleihung des Karlspreis an Selensky und die ukrainische Gesellschaft kaum. Sie hält ihn für einen ungeeigneten Kandidaten. Europa sei nach dem Zweiten Weltkrieg als Projekt des Friedens gegründet worden, sagte sie den Zeitungen der Funke Mediengruppe. „Wer den Karlspreis erhält, sollte alles dafür tun, den Krieg in der Ukraine durch Verhandlungen und einen Kompromissfrieden zu beenden“, so die Bundestagsabgeordnete weiter. Wagenknecht ergänzte, es wäre gut, wenn Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) „Selenskyj überzeugen könnte, einen solchen Weg von seiner Seite zu ermöglichen“.

Sahra – und wie sie sich die Welt zusammenbastelt. Nach diesen dürren Worten, mit denen sie einen dicken Stab gebrochen hat, sieht die Lage wie folgt aus: Die Ukrainer und Selenskyi würden keinen Frieden wollen. Und den würde man hinkriegen, wenn man sich ENDLICH mal hinsetzen und ernsthaft REDEN würde. An den Fakten geht diese Einschätzung allerdings vorbei.

Denn natürlich wird dieser Krieg in einem Kompromissfrieden enden, und hoffentlich so schnell wie möglich. Doch bis heute reden die angreifenden russischen Soldaten nicht von Kompromiss und Frieden, sondern von Durchhalten und Auslöschen. Klar, Kriegsführer Wladimir Putin wird ein Stöckchen brauchen, um einen Rückzug zu rechtfertigen, um seiner ratlosen Bevölkerung erklären zu können, was das alles eigentlich soll. Aber noch sprechen zu sehr die angreifenden Waffen, und dazu im Nachgang die verteidigenden ukrainischen Waffen, um einen Kompromiss auszuloten. Und solange das ist, haben die Ukraine und Selenskyi den Karlspreis dreimal verdient.

Das wollen doch auch nicht haben

Warum? Weil diese Auszeichnung an Personen geht, die sich um die Einheit Europas verdient gemacht haben. Und das geschieht gerade in der Ukraine als Teil Europas. Putin dagegen setzt auf Teilung. Er schwingt sich als angeblicher Fürsprecher der russischsprachigen Bevölkerung auf, die davon indes nichts wissen will. Er legt das Land in Schutt und Asche. Einheit in Europa, das ist für ihn eine nach seiner Ordnung, nach seinem Großreich, das er schaffen will, sozusagen eine Sowjetunion des Zaren.

Einheit und Freiheit verteidigen die Ukrainer auch für die Balten, Georgier und Polen – für ganz Europa. An Knuten hatten wir genug, im 20. Jahrhundert. Ein deutscher Verteidigungsminister sagte einmal zu Unrecht, unsere Sicherheit werde auch am Hindukusch verteidigt. Nein, der „Einsatz“ in Afghanistan brachte an Sicherheit nichts ein. Aber auf die Ukraine gemünzt, stimmte der Satz.

Um Selenskyi den Karlspreis zu überreichen, muss man kein Fan seiner Politik oder des politischen Systems in der Ukraine sein. Natürlich ist unklar, wer alles den Präsidenten im Hintergrund stützt, woher seine Geldkonten kommen. Auch ist das Regime von Korruption geplagt; der Nationalismus zeigte in den vergangenen Jahren gewisse Stilblüten.

Aber all dies ist kein Grund, ihm und den Ukrainern diesen Preis nicht zu verleihen. Die Ukrainer haben nicht darum gebeten, angegriffen zu werden. Dass sie sich widersetzen, ist wichtig – für Europa. Unrecht sollte tunlichst keinen Erfolg zeitigen. Daher ist Selenskyi der beste Kandidat dieses Jahres für den Karlspreis.

Wie viel Kalkül steckt in diesen Worten?

Wagenknecht weiß das. Aber sie will gegen den Scheitel kämmen, im Sinne jener potenziellen Anhänger, die mit diesem Krieg nichts zu tun haben wollen, die dem Kreml jede Sauerei durchgehen lassen würden, solange nicht ein Euro weniger verdient würde – und im Sinne jener, die ihrem Antiamerikanismus frönen und die USA für alles, auch den kalten April, verantwortlich machen. All die bedient Wagenknecht. Daher stichelt sie gegen Selenskyi und schweigt zu Putin. Nein? Würde an dieser Stelle auf die eine oder andere Fußnote verwiesen werden, in der sich Wagenknecht kritisch, aber…

…ja, Wagenknechts Kritiken am russischen Angriffskrieg ist nur ein Feigenblatt, eine Pflichtübung, maximal klein, um minimal aufzufallen und sich aufs Bashing der Nato und der USA zu fokussieren. Wie schon einmal geschrieben: Den Vietnamkrieg der Amerikaner werden wir den Ukrainern niemals verzeihen.

Wagenknecht braucht die Aufmerksamkeit im Öffentlichen. Ihr Name soll im „Spiel“ bleiben, trotz verblassenden Sterns in ihrer Partei. Denn sie liebäugelt mittlerweile heftig mit der Abspaltung und Gründung einer neuen Partei. Derweil stellt sie den Linken absurde und undemokratische Ultimaten, nach denen sie eine Spalterei beenden würde, wenn die Linke sich „völlig neu aufstellen würde, mit attraktiven Köpfen an der Parteispitze und einem vernünftigen Kurs“. Heißt: mit Leuten ihres Geschmacks. Wagenknecht verwechselt den Meinungsbildungsprozess in einer Partei mit dem Besuch eines Restaurants. Nur in letzterem kann sie aus der Karte auswählen. Den Machtkampf in der Linken hat sie längst verloren.

Video: Sahra Wagenknecht wird bei Lanz hart kritisiert