Kommentar: Lieferte Boris Palmer, was man bei ihm bestellte?

Der grüne Oberbürgermeister von Tübingen nimmt sich eine Auszeit – nach einem Höhepunkt seiner wirren und verletzenden Worte. Das ist ein ehrlicher, respektabler Schritt. Bleibt die Frage, was ihn zur Veranstaltung brachte, in deren Rahmen seine Beleidigungen fielen. Wollten die Organisatoren ein wenig Krawall zur Steigerung von Aufmerksamkeit?

Boris Palmer ist bei den Grünen ausgetreten.
Boris Palmer ist bei den Grünen ausgetreten. (Bild: Marijan Murat/dpa)

Ein Kommentar von Jan Rübel

Manche kalkulieren allgemeine Erregung nicht nur ein, sondern wollen sie auch. Entweder, weil sie ein Aufmerksamkeitsdefizit der anderen Art schmerzt, oder weil sie um der Freiheit willen austesten, was geht. Boris Palmer verlief sich bei solch einer Veranstaltung offensichtlich, fand den Ausgang nicht und eskalierte. Den Schaden hat er nun. Doch welche Verantwortung tragen die Veranstalter?

Von denen hört man derzeit strikte Abgrenzung. Nein, mit den Worten Palmers will man nun nichts zu tun haben. "Das FFGI distanziert sich aufs Schärfste von Boris Palmers Äußerungen", schrieb das "Frankfurter Forschungszentrum Globaler Islam" (FFGI). "Er hat die sehr gute und differenzierte Tagung 'Migration steuern, Pluralität gestalten' schwer beschädigt. Sein Verhalten war absolut inakzeptabel." Natürlich ist der mündige Bürger Palmer für sein Reden alleinverantwortlich. Aber ein paar Fragen gibt es schon.

Was war eigentlich passiert?

Palmer war zum Vortrag ans Zentrum eingeladen worden, es ging um Migration und Pluralität. Davor, auf dem Weg zum Ort, hatte er im Beisein eines schwarzen Studenten mehrmals das rassistische N-Wort benutzt. Studierenden, die daraufhin "Nazis raus" riefen, hielt er, wie auf einem Video zu hören ist, vor, sie beurteilten Menschen "anhand von einem einzigen Wort". Und sagte: "Das ist nichts anderes als ein Judenstern." Das war dann wohl doch etwas zu viel an Unsinn, der beleidigt und verletzt.

In aller Kürze: Palmer kennt den rassistischen Gehalt des N-Wortes. Er wird es nur verwendet haben, um zu triggern. Dass er dann als "Nazi" beleidigt wurde, ist natürlich ein Quatsch, eben eine Holzhammerantwort, aber sich dann mit Menschen gemein zu machen, die vor ein paar Jahrzehnten in Deutschland aus der Mitte der Gesellschaft herausgezwungen, isoliert, in ihren Rechten massiv beschnitten, mies beleidigt, bedroht, bestohlen, verletzt, getötet und am Ende in den industriellen Völkermord getrieben wurden – das ist nicht nur verhoben und auch nicht über die persönliche Betroffenheit Palmers wegen seiner eigenen Familiengeschichte mit einem jüdischen Großvater zu rechtfertigen.

Was sollte das alles?

Aber über Palmer muss nicht viel geschrieben werden. Er nimmt eine Auszeit, holt Hilfe ran, trat aus den Grünen aus, die seine sind. Bei ihm scheint es eine Getriebenheit zu geben, auch eine Gefahr, getriggert zu werden. Dann kann er wohl nicht anders: als gegenzuhalten, eine Rebellenposition einzunehmen, zu provozieren, den Regen der Erregung zu erhalten.

Warum aber wurde Palmer überhaupt eingeladen? Natürlich hat er als Oberbürgermeister einer Stadt in Deutschland Erfahrung in Sachen Migration und Pluralität, da hat er auch in seiner Kommune durchaus Bedenkenswertes zu erzählen; Palmer als nicht nur kontroverser, sondern auch unorthodoxer Kopf sorgt immer wieder für neue lösungsorientierte Ideen bei was auch immer. Wurde er deshalb eingeladen? Oder weil er beim Thema "Pluralität" offensichtlich auch einen Knacks hat, man erinnere sich an seine rassistische Polemik, als er sich an einem Werbefoto der Bahn stieß, weil sich seiner Meinung nach darauf nicht genügend bleichgesichtige Menschen einfanden.

Wo sind die bekannten Tasten?

Es lohnt ein Blick auf die anderen geladenen Redner der Konferenz. Neben Migrationsexperten wie Sarah Kostner und Ruud Koopmans sprachen dort Profis zu Arbeit (Vanessa Ahuja, Frank-Jürgen Weise) und zu Rechtsfragen (Daniel Thym). Sie bildeten sozusagen den Kern. Dann gab es Leute, die über spezielle Aspekte etwas zu sagen haben: Ralph Ghadban über Araber in Deutschland, Clanstrukturen und Identitäten, Ahmad Mansour über Patriarchat und Gewalt in Gemeinschaften mit Einwanderungsgeschichte und eine Lehrerin, die sich für Frauenrechte einsetzt (Birgit Ebel). Bei all diesen weiteren Gästen fällt auf, dass man von ihnen meist immer das Gleiche hört. Wichtige Inhalte, aber erwartbare.

Und vor allem werden sie geladen, wenn man etwas Kritisches über Muslime und Araber hören möchte. Da gibt es auch eine Menge zu besprechen, aber Ghadban und Mansour sind mittlerweile für Überraschungen kaum zu haben. Und die Veranstalterin des Ganzen ist mit Susanne Schröter eine Ethnologin, die sich wissenschaftlich mit einer Menge auseinandergesetzt hat, aber weniger mit Islamthemen; dennoch irrlichtert sie zuweilen als "Islamwissenschaftlerin" durch die Medien. Und spricht gern über Kopftücher & Co., stets mit der Problembrille und fast nie lösungsorientiert. Ihr geht es ums Meckern. Wie sie ihr Forschungsvorhaben "Globaler Islam" erhielt, erschließt sich mir nicht; ich dachte immer, dies sei weniger Aufgabe von Ethnologen und mehr von Islamwissenschaftlern. Aber Schröter haut in Tasten, die Manche wohl gern hören. Und sie lud Leute ein, die keine andere Melodie anstimmen. Der Erkenntnisgewinn solch einer Veranstaltung wird gering gewesen sein. Denn Wissenschaft lebt von Debatte und Widerstreit. Dies aber lenken Schröter und ihre Gäste leider nur allzu oft nur in eine Richtung. So sad.

Und da ist zu fragen, weshalb Palmer kommen sollte. Weil er gern mal einen rauslässt? Schröter und einige ihrer Gäste sorgen sich um die Wissenschaftsfreiheit in Deutschland. Das tun sie in Teilen zu Recht, sehen aber auch Probleme, wo keine sind. Aber warnen kann man ja ruhig. Nur kommt mir manches bei ihnen wie ein Erregungsspiel vor: Da wird dann bewusst Verletzendes in die Welt gesetzt, um den Sturm zu ernten wie aus einem Warenhauskatalog. Wissenschaft geht anders. Und Palmer wird bedauern, nach Frankfurt gefahren zu sein.