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Kommentar: Schockvideo blamiert das Auswärtige Amt

IZMIR, TURKEY - JANUARY 12: A pair of a child's shoes is seen after a boat carrying 19 irregular migrants capsized off the coast of Cesme in the Aegean province of Izmir, Turkey on January 12, 2020.  At least 11 irregular migrants, including eight children, were killed when their boat sank off the coast.          (Photo by Mahmut Serdar Alakus/Anadolu Agency via Getty Images)
Sinkt ein Boot mit Fliehenden im Mittelmeer, landen an der westtürkischen Küste die Spuren ihres Überlebenskampfes (Bild: Getty Images)

Szenen einer Jagd: Türkischer Küstenschutz rammt im Mittelmeer ein Boot mit Fliehenden. Ist das der Deal mit unserer Bundesregierung? Doch das Auswärtige Amt schweigt.

Ein Kommentar von Jan Rübel

Die Meldung liest sich wie eine Nachricht aus dem Krieg. „Am 4. Dezember um 9 Uhr jagte die türkische Küstenwache ein Flüchtlingsboot. Die Küstenwache versuchte, das Boot anzuhalten und zu rammen, um es zu blockieren und in die Türkei zurückzubringen.“ Geschrieben hat sie die Rettungsorganisation „Consolidated Rescue Group“ (CRG) – und untermalte diese Notiz mit Filmaufnahmen.

Diese Bilder machten Menschen mit ihren Handys, und zwar, als sie versuchten den Krieg endlich hinter sich zu lassen. Sie zeigen, wie Kinder und ihre Eltern in einem Schlauchboot sitzen und anfangen zu schreien: Eigentlich haben sie es fast geschafft, eine griechische Insel ist in Sichtweite, da taucht ein Schnellboot der türkischen Küstenwache auf. Es verrichtet die schmutzige Arbeit der EU.

Zwischen der Türkei und Griechenland ist das Mittelmeer nicht breit. Früher lebten Griechen und Türken an beiden Ufern, doch nach dem Ersten Weltkrieg kam es zu Vertreibungen und immensen Fluchtbewegungen. Heute, hundert Jahre später, werden selbst die Fliehenden gejagt.

Denn die Türkei hat 3,5 Millionen aus ihrem Land fliehende Syrer aufgenommen. Damit leistet sie eine enorme Hilfe. Doch die Zustände im Land werden für die Geflohenen immer schlimmer. Ihre Freiheiten werden eingeschränkt, wirtschaftlich ergeht es ihnen schlecht, und die türkische Regierung sorgt nicht wirklich für etwas, das man „Integration“ nennen möchte.

Der Weg der Hoffnung

So haben sich nicht wenige Syrer auf den Weg gemacht. Ich kenne selbst einige junge mutige Syrer, die sich bis zur westtürkischen Küste durchgeschlagen haben und es wagten in ein wackliges Schlauchboot zu steigen wie in diesem Film. Einige konnten nicht schwimmen, trugen keine Schwimmweste, aber eine Hoffnung, die stärker war als ihre Angst. Ich habe diese Leute kennengelernt, weil sie es schafften, nach Deutschland kamen und sich hier ein Leben aufbauen; einige sind mittlerweile brave Steuerzahler geworden. Wären sie auf dem Seeweg ertrunken, man hätte in Deutschland von ihnen keine Notiz genommen.

Genau diese Gefahr drohte den Menschen im Schlauchboot auf den Handyaufnahmen.

Das Schnellboot der türkischen Marine jagte nämlich die Fliehenden, schnitt ihnen den Weg ab und rammte ihr Schlauchboot sogar. Die Kinder schreien vor Angst, die Väter fluchen. „Lass den Motor nicht absaufen, fahr weiter“, flehen sie den Bootsführer an. Und sagen, dass sie so weit gekommen seien, sie würden nun nicht umkehren. An Bord sind Syrer aus Aleppo und Iraker. Sie haben wirklich eine Hölle hinter sich.

Und sie schaffen es. Nach drei Minuten, die sich wie drei Jahre anfühlen, lassen die türkischen Soldaten von ihrer Attacke ab und drehen bei. Das Schlauchboot erreicht mit der griechischen Küste die Grenze zur EU.

Ein deutscher Verteidigungsminister hat einmal gesagt, Deutschlands Freiheit werde am Hindukusch verteidigt. Das war ebenso falsch wie es richtig ist, dass Deutschlands Würde vor griechischen Stränden mit Füßen getreten wird. Denn letztlich hat das miese Verhalten der türkischen Marine, das ein Kentern des Schlauchbootes und den Tod von Menschen bewusst in Kauf nahm, mit Angela Merkel zu tun.

Im Jahr 2016 stand die Kanzlerin unter Druck. Sie hatte viele Fliehenden, vor allem Syrer wie auf dem Schlauchboot nun, in Deutschland aufnehmen lassen. Und das vergällten ihr nicht wenige (obwohl diese Geschichte bis heute eine einzige Erfolgsgeschichte für jeden ist, der hören und sehen kann). Eine Absicherung musste also her, ein Deal, damit den Deutschen eine Art Riegel präsentiert werden kann, ein Versprechen.

Also einigte man sich mit der türkischen Regierung, dass sie die syrischen Geflüchteten im Land hält und dafür finanzielle Unterstützung bei deren Unterhalt kriegt. Merkel und die EU nennen dieses Abkommen „Flüchtlingspakt“. Es ist mehr ein Faustischer Pakt.

Anders und entsprechend skandalös formuliert es das Auswärtige Amt. Auf Anfrage der „Bild“-Zeitung pressten sich die deutschen Diplomaten zur Erklärung heraus, „die EU-Türkei-Erklärung leistet einen wichtigen Beitrag zur Versorgung der Flüchtlinge in der Türkei und zur Bekämpfung der illegalen Aktivitäten von Schleppern“. Dies geschehe jedoch „in dem Verständnis, dass die türkische Küstenwache sich an internationale Standards hält und eine Gefährdung von Menschen vermeidet“. Dem Amt lägen zudem „keine hinreichenden Informationen“ zum gezeigten Video vor.

Bla Bla Bla

Man möchte schon wissen, was die sich sicherlich nicht für beschränkt haltenden Diplomaten unter hinreichenden Informationen verstehen. Reichte ihnen nicht die Bildschärfe der Filmaufnahmen? Monierten sie die Audioqualität, obwohl die Worte einzeln zu verstehen sind? Meinten sie, es könnte sich womöglich um eine rausgeschnittene Szene aus Rambo 3 handeln? Nicht hingucken ist jedenfalls auch keine Lösung.

Unsere Bundesregierung handelt im „Verständnis“, dass es sich bei der Türkei um einen Rechtsstaat handelt. Das passt als Bild, solange Ankara schmutzige Hilfsarbeiten verrichtet. Wenn Präsident Recep Tayyip Erdogan deutsche Journalisten einsperrt, kann dann anderer Stelle wohlfeil kritisiert werden – echt diplomatische Dialektik.

Ein Schiff der türkischen Küstenwache bei der Rückführung von Migranten im September 2015 (Bild: Reuters/Umit Bektas)
Ein Schiff der türkischen Küstenwache bei der Rückführung von Migranten im September 2015 (Bild: Reuters/Umit Bektas)

Wenn sich Syrer, Afghanen oder Iraker auf den Weg nach Europa machen, darf kein Schnellboot sie mit Gewalt daran hindern. Wer all diese Strapazen auf sich nimmt, darf an keiner europäischen Mauer scheitern.

Und jene Pegida-Demonstranten, die gerne mal „Absaufen, Absaufen“ laut rufen, sollten sich dabei diese Handybilder anschauen. Und sich vorstellen, sie säßen dort im Boot. Denn letztlich sitzen wir alle in einem Boot.