Kommentar: Schweigen gegenüber Arabern cancelt den eigenen Antisemitismus auch nicht

Veranstaltungen rund um Arabisches fallen in Deutschland aus – oder werden verschoben. Ein Generalverdacht macht die Runde. Doch Sprachlosigkeit hilft nicht weiter. Und sie lenkt ab von unseren eigenen Verfehlungen.

Ein Kommentar von Jan Rübel

Ein Paar passiert einen Tisch mit 220 Sitzen vor einer jüdischen Gemeinde in Berlin - ein Symbol für die von der Hamas entführten Menschen, auf deren Rückkehr man wartet
Ein Paar passiert einen Tisch mit 220 Sitzen vor einer jüdischen Gemeinde in Berlin - ein Symbol für die von der Hamas entführten Menschen, auf deren Rückkehr man wartet

Man kann es sich auch einfach machen, darin ist die AfD Expertin. Geht es um Antisemitismus in Deutschland, weiß die Partei, wohin der Finger zu zeigen hat. Zum 85. Jahrestag der Pogromnacht von 1938 fällt den Rechtspopulisten ein: „Es sind nicht die Dämonen der Vergangenheit, die Juden in Deutschland heute um ihre Sicherheit und um ihr Leben fürchten lassen, sondern zuerst und vor allem die Folgen einer verantwortungslosen Migrationspolitik, die aggressive Judenhasser in großer Zahl unkontrolliert ins Land gelassen hat und auf Kosten der Allgemeinheit alimentiert.“

Antisemiten sind immer die anderen

Damit delegiert die AfD Judenfeindschaft weg von den Deutschen ohne längere Einwanderungsgeschichte und hin zu den „Neuen“ – ein bekannter Taschenspielertrick. Denn natürlich sorgen auch die Dämonen der Vergangenheit, die hier und da fortleben, für Grauen in der Gegenwart. Aber die AfD möchte an Nazitum nur ungern erinnert werden. Da kommen die Araber gerade richtig, um ihnen den ganzen Kram vor die Füße zu kippen.

Dabei ist es komplizierter, und schlimmer. Judenfeindschaft hat in Deutschland viele Facetten. Die eine hat die andere nicht auszuspielen. Über viele Jahre hinweg wurden antisemitische Vorstellungen unter Muslimen und Arabischstämmigen in Deutschland ignoriert, man interessierte sich ja generell nicht für diese Leute und überließ deren problematische Narrative einer Handvoll Experten zur Deutung und Bekämpfung.

Heute aber ist kritisches Bewusstsein zu Judenfeindschaft mit Orientbezug angesagt. Es hat sich gar ein Generalverdacht entwickelt. Verstehen will der nicht viel. Es ist halt wie ein Pendel, das nach langer Zeit nun in die andere Richtung ausschlägt. Und eine Periode einläutet, in der Muslime und Arabischstämmige immer weniger Platz finden für ihre Gefühle, Meinungen, für ihr Empowerment.

Es braucht Platz für Schmerz – fürs Reden und fürs Schweigen

Deutlich zu beobachten ist, dass Öffentliches mit arabischem Bezug gerade kleiner wird. Es ging los mit der Verschiebung des „LiBeraturpreis“ an die palästinensische Autorin Adania Shibli im Oktober. Es werde angesichts des Terrors in Israel nun zusammen mit der Autorin „nach einem geeigneten Rahmen der Veranstaltung zu einem Zeitpunkt nach der Buchmesse" gesucht, hieß es. Dabei hat das ausgezeichnete Buch mit Antisemitismus oder mit den Terrormordattacken der Hamas nichts zu tun.

In Hamburg sollten Ende Oktober die „Arabischen Kulturwochen“ beginnen. „Aufgrund der angespannten Lage im Nahen Osten“ sind nun Veranstaltungen abgesagt worden. Man versteht nicht wirklich, warum. Und man liest wenig bis nichts über die Gründe.

Und dann gibt es eine geplante Fotoausstellung über muslimisches Leben in Deutschland, die wegen der „aktuellen Lage in Nahost“ verschoben wurde. Eine „einseitige Präsentation muslimischen Glaubens ohne einen entsprechenden Gegenpol, der beispielsweise jüdisches Leben in Berlin zum Thema hat“, wolle man derzeit nicht zeigen. Die Fotos sind absolut unverfänglich – es sei denn, man empfindet eine Kufiya, das sogenannte „Palästinensertuch“, als verfänglich. Dabei ist es Alltagsgegenstand. Einen „Gegenpol“ bräuchte es nicht zu dieser Ausstellung.

Wann ist Sprachlosigkeit die richtige Antwort?

Aber all diese Entscheidungen fallen in eine Zeit, in der eine Berliner Bildungssenatorin es den Schulen ausdrücklich erlaubt, den Schülern das Tragen einer Kufiya zu verbieten. Dies schafft ein Klima der Angst, der Unfreiheit und der Bevormundung. Eine negative Sprachlosigkeit entsteht. Hier wird eine Front aufgebaut, in deren Lesart alles Arabische, Muslimische oder halbwegs Orientalische gegen Israel oder gegen Juden wäre. Welch Gutes soll aus solch einer Vorstellung erwachsen?

Es gibt auch eine gute Sprachlosigkeit. Dass zum Beispiel das Berliner Maxim-Gorki-Theater die geplante Aufführung des Stücks „Zur Situation“ verschoben hat, ist Ausdruck der Verzweiflung ob des Terrors der Hamas. „Wir erkennen unsere Ohnmacht. Wir sind betroffen. In einem Krieg gibt es aber auch Getroffene. Das müssen wir uns klar machen. Dafür müssen wir Haltungen und Sprachen finden“, heißt es auf der Website des Theaters. Das Stück einer israelischen Regisseurin aus dem Jahr 2015 thematisiert die Reflektionen des Nahostkonflikts in einer Berliner Schulklasse; das ist hochaktuell, aber nun herrscht ein Krieg. Da ist es wichtig, sich zu sammeln, Worte zu suchen, anstatt sie rauszuhauen. Mit Canceln hat das nichts zu tun.

Bracha Lichtenberg Ettinger.
Bracha Lichtenberg Ettinger.

Ähnlich verhält es sich mit der Kunstschau "documenta". Nach den Skandalen der letzten Ausstellung mit antisemitischen Werken sollte eine Findungskommission die Reihe zukunftsfest machen; doch nach den Massakern der Hamas hat das israelische Mitglied Bracha Lichtenberg Ettinger um eine Entschleunigung des gesamten Findungsprozesses gebeten und vorgeschlagen, die nächste Sitzung der Jury zu verschieben: Sie erinnerte an den Krieg, an die Notwendigkeit zum Innehalten und zum Nachdenken darüber, was Kunst noch leisten könne in diesen finsteren Zeiten. Es wäre bitter notwendig gewesen. Die Kommission wollte aber weitermachen, Business as usual - und nun ist sie zerbrochen. Gewisse Dinge brauchen Zeit. Vor allem nach einem selbst verursachten Desaster wie der letzten "documenta".

Gesucht: Blick mit dem Herzen

Das führt uns zu Juden in Deutschland zurück, um die sich die AfD angeblich sorgt. Sie sind bedroht. Ein mannigfaltiger Antisemitismus zeigt gerade sein Gesicht, wirkt konkret physisch. Eine Kunst, die Juden in ihrem Sicherheitsanspruch nicht stützt, sollte keinen Platz in Deutschland haben.

Doch verordnetes Schweigen und teilweise Ausgrenzen wirkt auf mich nicht automatisch wie ein Akt gegen Antisemitismus – als habe man Angst, sich Vorwürfen auszusetzen, etwas „falsch“ zu machen – und macht dann erstmal nichts. Aber genau diese Sprachlosigkeit hilft kaum weiter.

Im Video: Habeck: "Antisemitismus ist in keiner Gestalt zu tolerieren"