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Kommentar: Wo bleibt denn nun der Wut-Herbst?

Ein Demonstrant im September in Lubmin, dem Endort der russischen Gaspipeline Nord Stream 2 (Bild: REUTERS/Joachim Herrmann)
Ein Demonstrant im September in Lubmin, dem Endort der russischen Gaspipeline Nord Stream 2 (Bild: REUTERS/Joachim Herrmann)

Im Sommer fürchteten sich Politik und Medien vor einem Aufstand der Bürger: Inflation, Energieknappheit, Krieg in der Nähe. Doch die Proteste verpuffen. Ihre Jämmerlichkeit steht offen da wie ein Kaiser ohne Kleider.

Ein Kommentar von Jan Rübel

Die Teilnehmer der „Montagsdemos“ scheinen ihre eigenen Slogans sehr ernst zu nehmen. „Wir frieren nicht für euren Krieg“ hatten sie bereits im Sommer drohend gerufen. Vielleicht sind also die gesunkenen Temperaturen der vergangenen Tage der Grund, warum die Proteste immer kleiner werden; auf der Straße friert man ja.

Das sollte man mal den Bürgern von Kiew sagen, die leben fast alle gerade ohne Strom und ohne Wasser. Weil Russlands Diktator Wladimir Putin in seinem Krieg nicht vorankommt, schickt er nun Raketen und Drohnen gegen die Infrastruktur, so dass man dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyi nur rechtgeben kann, wenn er sagt, Russland sei ein Terrorstaat. Putin lässt die Ukrainer frieren. Die Kiewer würden bestimmt allzu gern rufen: „Wir frieren nicht für deinen Krieg.“ Nur hört Putin womöglich nicht besonders gut, vielleicht könnten die deutschen Montagsdemonstranten eine Delegation nach Moskau schicken und es ihm vorsingen.

Was wirklich fehlt

Nebenbei könnten sie ihre Forderung nach irgendwelchen Verhandlungen wiederholen, wegen Frieden und so, das fände Putin bestimmt nett. Zwar will er sowas nicht, aber die deutschen Montägler veräppeln würde er gewiss gern. Auch haben die Demonstranten ein neues Thema gefunden, bei dem sie sich gewiss mit Putin einig sind: Nun wird gegen die Bargeldabhebegrenze von 10.000 Euro demonstriert. Putin ist gewiss einer, der mal schnell an große Klunker ranmuss, das verstehe ich. Aber was juckt es jene in Deutschland, die nicht frieren wollen? Gedenken sie ihre Heizrechnungen in bar zu bezahlen? Ach nee, sie fürchten in der Begrenzung eine Tendenz zur Abschaffung von Papiergeld und damit hin zu einem Überwachungsstaat. Es ist ein Paradebeispiel fürs Verharren in alten Zeiten. Sich eine schöne Gegenwart bauen, dazu braucht es halt Zuversicht und Empathie, da ist leider bei den Montagsdemos nicht viel zu holen: Immer Anti, immer im Argwohn, besonders gegenüber dem Nächsten, das strengt an.

Irgendwas geht immer

Und so verebben langsam die Bürgerproteste in Deutschland. Kanzler Olaf Scholz hat seine Bürger richtig eingeschätzt, ihre Liebe zur Angst. Er hat einen Doppelwumms rausgeholt und die Deutschen in dieser großen, weltweiten Wirtschaftskrise mit Geld unterstützt, wie es in kaum einem anderen Staat geschieht. Man will ja nicht frieren. Das sollen bloß die Ukrainer. Mit denen hat man nichts zu schaffen, wenn man Gaspreisdeckel, Strompreisdeckel und andere Hüte kriegt. Scholz wummst die Montagsdemos gerade weg. Die wenigen Haufen, die übrigbleiben, werden jene sein, die immer etwas finden. Die brauchen die Demos aus anderen Gründen. Der Wut-Herbst sagt sich selbst ab.

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