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Kommentar: Wolfgang Kubicki ist der Rächer der Enterbten

Der FDP-Politiker Wolfgang Kubicki stellt sich gegen eine Impfpflicht – was zwar gut und wichtig für die Debatte ist, seine Argumente aber sind haarsträubend.

Wolfgang Kubicki in diesem Herbst auf dem Weg zu Koalitionsgesprächen (Bild: REUTERS/Annegret Hilse)
Wolfgang Kubicki in diesem Herbst auf dem Weg zu Koalitionsgesprächen. (Bild: REUTERS/Annegret Hilse)

Ein Kommentar von Jan Rübel

Für seine urliberale Haltung ist Wolfgang Kubicki bekannt. Auch für seine demokratische Einstellung, dass um Ansichten gerungen wird und dann die unterlegene Seite den Mehrheitsbeschluss akzeptiert und trägt. Doch zuweilen treibt es den Kieler bei seinem Fight zu weit ins offene Meer hinaus; dort verfährt er sich dann gehörig.

In diesen Tagen mobilisiert der FDP-Grande in seiner Fraktion Anhänger*innen, die sich gegen die fürs neue Jahr avisierte Impfpflicht aussprechen. Für Kubicki bedeutete sie einen zu großen Einschnitt in Freiheitsrechte. Klar, um solch eine Pflicht muss intensiv gestritten werden, eine Selbstverständlichkeit ist sie nicht. Doch bei den Argumenten sollte Kubicki etwas nachbessern.

In einem Interview mit der "Zeit" konnte er nicht davon ablassen, sich selbst ein wenig toll für sein Freiheitsengagement zu finden. Denn ohne ein großes Fass aufzumachen und daraus einen noch größeren Schluck zu nehmen – darunter macht es Kubicki nicht, der einmal damit angab, während des Lockdowns in seiner "Stammkneipe" gewesen zu sein und dass man dort den SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach einen "Spacken" nenne: "Ich bin entsetzt über das jakobinerhafte Verhalten vieler in diesem Land, deren Freude an 2G und Impfpflicht ja nicht mehr rational ist", sagte er also nun der Wochenzeitung. "Vielen Impfpflichtbefürwortern scheint es um Rache und Vergeltung zu gehen."

Die Backen sind dick

Eiderdaus, woher nimmt er das? Aus seinem Fass? Freude angesichts des ganzen Coronamists haben nur Sozialphobiker, denen kommen vielleicht die Abstandsanmahnungen zupass. Aber ansonsten? Ich sehe nirgends jemanden, der oder die juchzend aufschreit, wenn andere nicht in Restaurants oder Geschäfte eingelassen werden. Auch ist mir nicht zu Ohren gekommen, man verspüre eine gewisse Lust bei der Vorstellung, anderen ein Bußgeld aufzubrummen, wenn sie sich eine Spritze nicht geben lassen. Rausgehauene Hirngespinste à la Kubicki. Vielleicht muss man ihn nicht allzu ernst nehmen.

Immerhin ist der von ihm geschmähte Lauterbach mittlerweile Bundesgesundheitsminister geworden, während der Norddeutsche, von der Parteiführungsriege übergangen, trotz Wahlsieg Bundestagsvizepräsident bleibt. So hat er weiterhin viel Zeit, es wichtig zu finden, dass man ihn keinen Spacken nennt. Dafür tut er eine Menge. Zum Beispiel, indem er Andersdenkende des Jakobinertums zeiht, was eine einfache Nummer ist: Du bist allzu vorsichtig und mahnst Vorsicht deiner Nächsten beim Umgang mit dem Coronavirus an? Jakobiner! Das waren übrigens die mit den Guillotinen während der Französischen Revolution, also die Kopfabhacker. Wie gesagt: Den Mund nimmt er gewöhnlich voll.

Völlig baff macht Kubicki indes mit der Mutmaßung, es gehe Geimpften um Rache und Vergeltung. Wo sind die Zorros oder Hawkeyes, die umherschwirren, auf der Suche nach Ungeimpften? Andersrum sind es eher aktivistische Ungeimpfte, die auf Demos auf ihre Haltung lautstark aufmerksam machen, während die weitaus größeren Demos der sich Impfenden lautlos und geordnet ablaufen – nämlich in den Impfzentren, die sie gerade aufsuchen.

Also, Rache an wem, fragt auch die "Zeit". "An den Ungeimpften, weil man glaubt, in ihnen die Verantwortlichen für unsere derzeitige Misere ausgemacht zu haben, was natürlich völliger Unsinn ist."

Nun, verantwortlich bleibt das Virus. Nur kommt man nicht umhin anzuerkennen, dass Ungeimpfte diese kleinen Teilchen leichter, öfter und mehr verteilen als Ungeimpfte. Außer, man heißt Kubicki: Der erwidert, auf diesen Widerspruch angesprochen: "Selbst wenn ich diese Sicht teilen würde, was ich nicht tue…"

Denn er kann viel tun, wenn der Tag lang ist. Auch sich über wissenschaftliche Fakten hinwegsetzen, wenn sie gerade nicht passen.

Versäumnisse sind immer die der anderen

Im Interview sagt der FDP-Politiker auch viel Wichtiges. Dass wir uns China nicht zum Vorbild nehmen sollen, mit seiner Schwarz-Weiß-Politik, oder dass der Umgang mit der Pandemie kein Dauerzustand werden dürfe. Aber der Liberale schafft es auch, sich aus der Verantwortung für die eigene Politik zu winden. Mit Blick auf die schlecht ausgestatteten Krankenhäuser, die nun unter der Coronalast ächzen, sagt er: "Da muss man sich doch als Staat fragen: Warum bauen wir nicht Kapazitäten auf, die das verhindern, anstatt die Grundrechte einzuschränken?" Tja, weil sich die liberale, die marktliberale Sicht durchgesetzt hat, dass Krankenhäuser nicht nur zu privatisieren seien, sondern auch noch komplett auf Rendite ausgerichtet sein sollten. FDP pur.

Solange wir also gewisse Notwendigkeiten nicht auf die Reihe kriegen, zum Beispiel eine garantierte Intensivbetreuung für alle Erkrankten oder eine Durchimpfung der Gesellschaft bis hin zu 90 Prozent, solange wird die Impfpflicht eine nötige Option sein.

Im Video: Corona - Zehntausende demonstrieren in Europa gegen Masken und Impfpflicht