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Kommentar: Wolfgang Kubicki versteht nicht sein eigenes Land

Der FDP-Vizechef irrlichtert zielsicher durch den Populistenwald. Er fordert eine Öffnung der neuen Gas-Pipeline aus Russland – Ähnliches kommt von einem ostdeutschen Handwerkerverband. Das ist verständlich, aber voller Kurzsicht auf Deutschland.

Ein Kommentar von Jan Rübel

FDP-Bundesvize Wolfgang Kubicki beim Bundespresseball im April 2022 (Bild: REUTERS/Fabrizio Bensch)
FDP-Bundesvize Wolfgang Kubicki beim Bundespresseball im April 2022 (Bild: REUTERS/Fabrizio Bensch)

Mit jedem Tag, der uns dem Winter näherbringt, liegen bei Manchem die Nerven blank. Jedenfalls nehmen politische Forderungen zu, bei deren Trägern das Hemd näher ist als die Hose. Sie quellen über vor Hysterie, gespeist von der Furcht, dass wir im Winter nicht nur frieren, sondern wirtschaftlich einen Eisbach hinabstürzen könnten.

Das ist unrealistisch, in gleich mehreren Punkten.

Ein sicherer Kantonist in Sachen Bauchnabelschau ist Wolfgang Kubicki. Der FDP-Bundesvize forderte unlängst: "Wir sollten Nord Stream 2 jetzt schleunigst öffnen, um unsere Gasspeicher für den Winter zu füllen." Es gebe "keinen vernünftigen Grund, Nord Stream 2 nicht zu öffnen" – dabei handelt es sich um die Pipeline, die über die Ostsee Deutschland und Russland verbindet, nun fertig ist und wegen des Krieges gegen die Ukraine nie gefüllt wurde. Warum fordert Kubicki sowas? Er argumentiert, es würde helfen, "dass Menschen im Winter nicht frieren müssen und unsere Industrie nicht schweren Schaden nimmt". Dafür zu sorgen, sei oberste Pflicht der Bundesregierung.

Gut, dass Kubicki kein Minister geworden ist.

"Schleunigst" – das Wort tut so, als würde eine Öffnung der Pipeline ernsthaft erwogen werden. Tatsächlich aber gibt es viele vernünftige Gründe, dies abzutun: Gasgeld fließt direkt in die Kriegskasse des Kremls. Wir begeben uns damit nicht nur in Abhängigkeit einer kriegslüsternen Diktatur, sondern helfen ihr auch noch bei ihrem Beutezug durch die Ukraine (die Bilder von russischen Soldaten, die Kühlschränke klauen, haben wir noch in Erinnerung). Wer will das denn? Kubicki vielleicht, der fand ja schon früher den Lügenverbrecher Wladimir Putin okay.

Untergangslust ist das neue Schick?

In ein ähnliches Horn stößt die Kreishandwerkerschaft Halle-Saalekreis. 16 Unterzeichner aus verschiedenen Innungen fordern Bundeskanzler Olaf Scholz auf, alle Sanktionen gegen Russland zu stoppen. Sie fordern Verhandlungen – das ist Blablabla, denn auf ukrainischer oder "westlicher" Seite gibt es niemanden, der etwas gegen Verhandlungen hätte; es liegt nur an Putin, damit ist diese Forderung schlicht falsch adressiert und wohlfeil.

"Wir als Handwerker wissen aus vielen Gesprächen mit unseren Kunden, dass die breite Mehrheit nicht gewillt ist, für die Ukraine ihren schwer erarbeiteten Lebensstandard zu opfern. Es ist nicht unser Krieg!", heißt es in dem Brief. Glauben wir mal, dass diese Handwerker genügend Gespräche geführt haben, um zu wissen, was eine "breite Mehrheit" ist. Sollte dies so sein, wären im Saalekreis eine Menge Egoisten unterwegs. "Für die Ukraine" – die gerade schuldlos angegriffen wird? Wie freiheitsliebend und solidarisch ist sowas? Also kein Jota des "Lebensstandards", um Bomben, Raketen und Massaker zu verhindern? Und natürlich ist es unser Krieg. Denn eine Diktatur auf Expansionskurs stoppt diesen nur, wenn sie dazu gezwungen wird. Unsere Freiheit wird gerade in Kiew verteidigt. Ein SPD-Verteidigungsminister sagte einmal fälschlicherweise zur Rechtfertigung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan, unsere Freiheit werde am Hindukusch verteidigt. Das wurde sie nicht, ansonsten wäre sie ja nach dem Afghanistandesaster der internationalen Truppen akut in Gefahr. Aber die Ukraine liegt dann doch etwas näher. Es ist mitten in Europa. Und der Aggressor versucht gerade munter, Grenzen zu verschieben. Dieser Neokolonialismus à la Moskau benötigt einen Riegel.

Gesucht: Bauchnabelscham

Die Handwerker aus diesem einen Kreis teilen mit Kubicki ihre Überdrehtheit beim Blick auf die Wirtschaft. Durch die Sanktionen und durch das weniger geflossene und fließende Gas leidet unsere Wirtschaft, aber nicht wirklich arg. Alle Experten versichern: Das Abendland sieht nicht einmal einen Streifen der Verdüsterung am Horizont. Und dennoch faseln die Briefschreiber von "Ruin" und Kubicki von "vernünftigen Gründen". Dass sie übertreiben, ist eine untertreibende Formulierung.

Dass die Handwerker irgendwie ihren moralischen und ihren intellektuellen Kompass verloren haben, zeigt ihr herbeigeholter Hinweis, dass es sich bei der Ukraine nicht um einen „lupenreinen demokratischen Staat“ handele – mit Verweis auf den Korruptionsindex von Transparency International, bei dem die Ukraine krass schlecht abschneidet. "Und dafür wollen Sie Deutschland aufs Spiel setzen?" Man könnte jetzt sagen: Schuster, bleib bei deinen Leisten. Aber: Abgesehen davon, dass nichts aufs "Spiel" gesetzt wird, dass es sich nicht um ein Spiel handelt und Deutschland und seine Bürger kaum bangen müssen, dieses Mimimi der Handwerker lächerlich ist – sollten also die Ukrainerinnen und Ukrainer für die Korruption in ihrer Gesellschaft bestraft werden, indem man sie angreift und alle anderen dabei zusehen? Nach dem Motto: Weil mein Handwerker nebenan in Kiew schwarz arbeitet, habe ich es verdient, dass eine Bombe mein Heim zerstört?

Diese Angst um eine Minimaltrübung unseres Lebensstandards im Schatten einer Freiheitsverteidigung für uns alle finde ich schlicht: erbärmlich.

Im Video: Gaslieferung durch Nord Stream 1 wieder angelaufen