Maischberger über Armut: Wenn Politiker und Journalisten von einem 17-Jährigen lernen

Talk bei Sandra Maischberger zum Thema soziale Gerechtigkeit: Profitieren vor allem Reiche von dem Wirtschaftsboom? Foto: Screenshot / ARD
Talk bei Sandra Maischberger zum Thema soziale Gerechtigkeit: Profitieren vor allem Reiche von dem Wirtschaftsboom? Foto: Screenshot / ARD

Die Schere zwischen arm und reich klafft in Deutschland immer weiter auseinander. Im vergangenen Jahr sind über 250.000 Millionäre dazu gekommen. Was gut ist. Viele profitieren von rapide gestiegenen Immobilienpreisen. Aber diese Entwicklung kennt auch Verlierer. Denn gleichzeitig wächst die Zahl der Armen, die jeden Tag arbeiten, aber von einem Job nicht leben, sich die Miete kaum leisten können. In den letzten zehn Jahren hat sich der Anteil der Erwerbsarmut verdoppelt. Trotz Wirtschaftsboom. Wieso profitieren nur Reiche und werden gleichzeitig mehr Menschen abgehängt? Sandra Maischberger fragt: Die unfaire Republik – werden Reiche bevorzugt und Arme benachteiligt?

Der Unternehmer

Ralf Dümmel hat eine Ausnahme-Vita: Er ist Selfmade-Millionär, sein Unternehmen für Haushaltswaren erwirtschaftet jährlich einen Umsatz von 260 Millionen Euro, er beschäftigt 400 Mitarbeiter. Angefangen hat er bei null. Die Nation kennt ihn aus der Höhle der Löwen: „In Deutschland werden Reiche negativ abgestempelt, dabei bedeutet Geld verdienen, vor allem hart zu arbeiten und ins Risiko zu gehen.“

Dümmel erzählt von dem eigenen Werdegang, dass er lange Zeit, trotz starker Zahlen im Unternehmen, alles reinvestieren musste, um wachsen zu können. Deshalb sei ein höherer Spitzensteuersatz, damit Reichtum umverteilt werden kann, von oben nach unten, auch nur begrenzt sinnvoll. „Ich persönlich wäre bereit, mehr Steuern zu bezahlen. Was ich aber überhaupt nicht verstehe, wenn wir über einen Spitzensteuersatz von 70 Prozent sprechen. Wir haben ein Land, das wächst, das ganze Wirtschaftswachstum wird aber ins Stocken geraten, wenn Erfolg am Ende nicht belohnt wird.“

Die Linke von den Linken

Sahra Wagenknecht bringt die Ungleichheit auf den Punkt: „Das Problem ist, dass manche Manager monatlich mehr verdienen, als ein Arbeiter im ganzen Leben.“ In Zahlen ausgedrückt: Der Vorstandsvorsitzende der Post, eines Dax-Unternehmens, verdient das 232-fache seines Angestellten, eines einfachen Postboten. Das ist krass und von dieser Entwicklung muss Deutschland wegkommen. Eine der größten Schieflagen ist der Verdienst auf dem Rücken des Angestellten:

„Für mich ist ein erstrebenswertes Ziel, dass jeder Mensch sozial abgesichert ist, dass er im Wohlstand lebt. Dass die Stufen, die man erklimmen kann von der eigenen Leistung abhängen und nicht vom Haushalt, in den man geboren wurde. Von diesem Ideal bewegen wir uns weg. Wenn ein Kind in eine arme Familie geboren wurde, wird es sehr wahrscheinlich wieder arm. Das hat mit Bildung zu tun, mit Ausgrenzung. Da hat die Politik die Weichen gestellt, dass sich die Kontraste eher verschärfen. Wenn es 250.000 neue Millionäre gibt, gibt es gleichzeitig mehr Menschen im Niedriglohnsektor. In den letzten zehn Jahre haben wir doppelt so viele Menschen, die arm sind trotz Arbeit. Viel großes Geld wird in Form von Kapitalerträgen vermehrt. Das Vermögen wächst, wenn Gewinne und Dividenden steigen, das ist auch verursacht, weil Lohnkosten gedrückt werden, durch Leiharbeiter, Befristungen, Werkverträge.“

Die Frau von der Börse

Die ARD-Börsenexpertin Anja Kohl ist nicht überrascht über die Entwicklungen in unserem Land: „Die Spaltung hat sich seit der Finanzkrise verfestigt. Man muss aber relativieren: In den USA sind Reiche reicher geworden, die Mittelschicht ist abgebröckelt, die Armen sind ärmer geworden, da passt das Schwarz-Weiß-Bild. In Deutschland passt es nicht, denn Fakt ist, dass die Mittelschicht an Vermögen zugelegt hat, die Vermögenden noch vermögender geworden sind, wir aber auch Menschen haben, die in Armut gefangen sind. In einer aktuellen Studie sagen mehr Deutsche als früher, dass sie zufrieden sind, mit ihrer finanziellen Situation. Aber acht Prozent sagt: Die Situation ist schlecht. Und über diese Menschen müssen wir reden.“

Der Realist

Rainer Hank ist Wirtschaftsjournalist und macht sich mit vielen Äußerungen in der Runde nicht gerade beliebt. Dabei kommt er der Denkweise vieler Profiteure in unserem Wirtschaftssystem vermutlich am Nächsten, deswegen hier ein paar Schnappschüsse:

„Die Steuerlast trägt vor allem der Reiche, nicht der kleine Mann.“

„Wer im Moment einen Vollzeitjob haben will – er wird ihn bekommen. Die Unternehmen suchen – Sie sehen es an jeder Bäckerei, Sie sehen es an jedem Mittelständler – händeringend Arbeitnehmer.“

“Es steht der Politik nicht zu, in die Entscheidungsfreiheit von Bürgern einzugreifen!”

Und auf den Cum-Ex und Cum-Cum-Skandal angesprochen, der vergangene Woche die Schlagzeilen dominiert hat, weil Banken und Aktienhändler die Steuerkassen um geschätzt 55 Milliarden Euro geplündert haben: „Vieles war legal oder an der Grenze. Hier werden die Falschen geschlagen. Wenn der Staat solche Gesetze macht, kann man dem Steuerbürger nicht vorwerfen, dass er sie nutzt. Das macht jeder so und ist ein rationales Verhalten. Gegen den Staat muss geredet werden und der hat korrigiert, aber nicht jetzt moralisieren oder die Profiteure kriminalisieren.“

Der Betroffene

Die Runde bei Maischberger bereichert vor allem Jeremias Thiel. Ein Vorwurf an die Politik der letzten Wochen und Monate lautet: Den Volksvertretern fehlt der Kontakt zu ihrem Volk. Sie kennen sich nicht mehr aus in den gesellschaftlichen Milieus. Da ist es eine willkommene Abwechslung, dass zumindest in den Talkshows Betroffene zu Wort kommen und nicht nur Journalisten und Politiker, die über Betroffene reden und urteilen und sogar Gesetze für sie schreiben.

Jeremias wuchs in Armut auf, er ging Flaschen sammeln, mit elf Jahren verließ er seine Familie, weil beide Eltern psychisch krank waren und ging in eine SOS-Kinderdorf. Mittlerweile steht er kurz vor dem Abitur an einer internationalen Schule, er ist Vollstipendiat, sieht sich selbst aber als absolute Ausnahme: „Es hängt von der Einstellung des Einzelnen ab, aus so einer Situation herauskommen. Mein Bruder hat nicht die Kapazitäten wie ich, nicht das Umfeld, meine Eltern sind so sehr mit sich selbst beschäftigt, die können ihn nicht fördern.“

Es war für ihn sehr schwierig, den drastischen Schritt zu gehen und von zuhause auszuziehen. Aber es war notwendig: „Ich habe daran gemerkt, arm zu sein, dass ich während der Europameisterschaft Flaschen sammeln war, damit ich mir ein paar Schuhe leisten konnte. Wir müssen viel offener darüber sprechen, wie ausweglos die Lage für Kinder in Hartz 4 ist. Arm sein hat viele Facetten, aber auf jeden Fall habe ich es daran gemerkt, dass mir alle sozialen Kontakte in meinem Leben versperrt worden waren.“

Und zu den Cum-Cum und Cum-Ex-Geschäften sagt er so treffend, dass die Journalisten und Politiker in der Runde nur stumm nicken: „Wir reden die ganze Zeit von Schuld und Nicht-Schuld im Kontext von Gesetzen, die für uns gelten. Aber ich finde, wir tragen alle eine moralische Pflicht gegenüber den Steuergeldern, die jeder einzelne Erwerbstätige zahlt. Selbst durch mein Praktikum im Sommer floss Geld an Menschen, die in ihrer Gier nicht genug haben können.“

Wer nicht da ist

Das sind also die Gäste einer spannenden und zielführenden Debatte. Aber genauso interessant ist, wer nicht die Runde auffüllt und damit eine traurige Zustandsbeschreibung abgibt: Besprochen wird das Thema soziale Gerechtigkeit und kein SPD-Politiker ist da, um über das eigene Kernthema zu sprechen. Das zeigt eindrücklich den Schwund der ehemaligen Volkspartei. Dabei ist egal, ob die SPD keinen Vertreter schicken konnte oder schlicht nicht eingeladen war. Beides ist gleichermaßen besorgniserregend. Weil die Partei entweder nichts zu sagen hat oder die Produzenten von Maischberger es nicht mehr für wichtig halten, die SPD einzuladen.