Peter Leissl im Interview: "Die Leichtathletik muss aufpassen, nicht als altmodisch verschrien zu werden"

Seit 1987 ist Peter Leissl für das ZDF bei Leichtathletik-Weltmeisterschaften im Einsatz. Bei den Titelkämpfen in Budapest ist er nun letztmalig im Einsatz. (Bild: ZDF / Rico Rossival)
Seit 1987 ist Peter Leissl für das ZDF bei Leichtathletik-Weltmeisterschaften im Einsatz. Bei den Titelkämpfen in Budapest ist er nun letztmalig im Einsatz. (Bild: ZDF / Rico Rossival)

Seine Stimme begleitet TV-Zuschauer seit mehr als drei Jahrzehnten: Nach der 18. Leichtathletik-WM ist für Peter Leissl Schluss. Im Interview gibt er Auskunft über die deutschen Medaillenchancen, seine Anfänge beim ZDF - und verrät, warum er einst pitschnass mit Wolf-Dieter Poschmann in Rom strandete.

Peter Leissl ist einer der wichtigsten Vermittler von Leichtathletik im deutschen Fernsehen: Seit 1987 war der ZDF-Mann als Reporter bei 17 Weltmeisterschaften, dazu kommen diverse Olympische Spiele. Doch auch, wenn er versichert, sich noch immer fit zu fühlen, neigt sich die Karriere ihrem Ende entgegen. Im Februar geht der Journalist, der im Duo mit Wolf-Dieter Poschmann Sportgeschichte schrieb, in Pension. Davor stehen für den 65-Jährigen aber noch einmal Titelkämpfe an. Das ZDF überträgt ab Samstag, 19. August, die Leichtathletik-WM aus Budapest, wo Leissl allerdings nicht die größten Medaillenchancen auf deutscher Seite sieht, wie er im Gespräch erklärt.

teleschau: Am 19. August beginnt die Leichtathletik-WM in Budapest. Worauf freuen Sie sich besonders?

Peter Leissl: Ich freue mich, etwas von Budapest zu sehen, wenn es die Zeit erlaubt. Wir wohnen in einem Hotel nahe der Innenstadt. Ich hoffe, da auch etwas von der Atmosphäre der Stadt aufsaugen zu können.

teleschau: Was erwarten Sie von den Wettkämpfen?

Leissl: Ich bin gespannt, ob wir sportliche Überraschungen erleben werden. Mit Blick auf das deutsche Team habe ich keine ganz großen Erwartungen, zumal die Verletzungsmisere gerade um sich greift. Aber es gibt ja immer wieder positive Überraschungen.

teleschau: Die EM 2022 hat hierzulande eine kleine Euphoriewelle ausgelöst ...

Leissl: Die EM in München war eine tolle Veranstaltung, die von der Unterstützung des Heimpublikums sehr profitiert hat. Ich glaube aber nicht, dass sich daraus ein Jahr später noch ein Anschubeffekt ergibt. Man muss auch die WM 2022 in Eugene als Gradmesser nehmen. Wenn die Weltklasse aus Übersee kommt, ist die Konkurrenz eine ganz andere als bei Europameisterschaften. Deswegen würde ich vor übertriebenen Erwartungen warnen.

Bei der Heim-EM 2022 holte Niklas Kaul Gold im Zehnkampf. Auch bei der WM in Budapest zählt ZDF-Kommentator Peter Leissl den Athleten zum Favoritenkreis. (Bild: Getty Images / Alexander Hassenstein)
Bei der Heim-EM 2022 holte Niklas Kaul Gold im Zehnkampf. Auch bei der WM in Budapest zählt ZDF-Kommentator Peter Leissl den Athleten zum Favoritenkreis. (Bild: Getty Images / Alexander Hassenstein)

"Man sollte die Athletinnen und Athleten an ihren persönlichen Bestleistungen messen"

teleschau: Mit Malaika Mihambo fällt die Gallionsfigur der deutschen Leichtathletik verletzungsbedingt bei der WM aus. Wer kann für das deutsche Team vorangehen?

Leissl: Die beiden Zehnkämpfer Leo Neugebauer und Niklas Kaul. Im Speerwerfen ist Julian Weber sehr konstant in seinen Leistungen. Gina Lückenkemper, die wir in Europa hoch einschätzen, hat das realistische Ziel, den Endlauf zu erreichen. Viel mehr ist bei der Konkurrenz, die regelmäßig Zeiten um die 10,80 Sekunden läuft, wahrscheinlich nicht drin.

teleschau: Wann kann man mit der WM aus deutscher Sicht zufrieden sein?

Leissl: Man sollte die Athletinnen und Athleten an ihren persönlichen Bestleistungen messen. Wenn es dann nicht zu einer Medaille oder zu einem Platz unter den besten Acht reicht, ist das nicht schlimm. Wenn sie ihre beste Leistung auf dem Saisonhöhepunkt erzielen, sollte man das herausstellen.

teleschau: In einem Interview vor einigen Jahren sagten Sie: "Ich halte nicht viel vom Medaillenzählen" ...

Leissl: Das versuchen wir im ZDF zu vermeiden. Als ich angefangen habe, Leichtathletik zu kommentieren, gab es noch den Kampf der Systeme: DDR gegen BRD. Bei der WM in Rom 1987 war es noch eine wichtige Information für uns im Sender, wer wie im Medaillenspiegel dasteht. Das muss man im Jahr 2023 nicht übertreiben.

teleschau: Mit den Finals hat man 2019 ein neues Format ins Leben gerufen, um mehr Aufmerksamkeit für die Deutschen Meisterschaften zu erzeugen.

Leissl: Das Format wird besonders von den Sportarten geschätzt, die sonst im Fernsehen nicht in Erscheinung treten würden. Ich finde es sehr gut, auch wenn die Finals in Deutschland nur an wenigen Orten durchführbar sind. Bei den diesjährigen Finals im Rhein-Ruhr-Gebiet mussten die Leichtathleten und Schwimmer nach Kassel und Berlin ausweichen. Das weicht das Format auf. Es ist aber oft Wunschdenken, alles an einem Ort ausrichten zu können, weil das in Deutschland wahrscheinlich nur in München und Berlin gelingt. Das Schöne an den Finals ist auf jeden Fall, dass die Sportler disziplinübergreifend in Kontakt kommen. Deshalb finde ich es gut, mit den Finals weiterzumachen. Aber man muss aufpassen, dass man es geografisch nicht zu sehr "zerfasert".

Medaillenhoffnung Malaika Mihambo fällt für die WM in Budapest aus. Auch deswegen sagt Peter Leissl: "Mit Blick auf das deutsche Team habe ich keine ganz großen Erwartungen, zumal die Verletzungsmisere gerade um sich greift." (Bild: Getty Images / Maja Hitij)
Medaillenhoffnung Malaika Mihambo fällt für die WM in Budapest aus. Auch deswegen sagt Peter Leissl: "Mit Blick auf das deutsche Team habe ich keine ganz großen Erwartungen, zumal die Verletzungsmisere gerade um sich greift." (Bild: Getty Images / Maja Hitij)

"Bei der Leichtathletik weiß man nicht, was auf einen zukommt"

teleschau: Sie erwartet nun ihre 18. Leichtathletik-WM. Erstmalig waren Sie 1987 dabei. Wie sind Sie damals zur Leichtathletik gekommen?

Leissl: Als ich beim ZDF vor 40 Jahren als junger Mitarbeiter anfing, habe ich mich an den Sportarten orientiert, die ich mochte - sowohl als TV-Zuschauer als auch selbst in der Freizeit. Zuerst war ich MAZ-Redakteur, danach habe ich mit Kamerateams gearbeitet und kleinere Beiträge gemacht. Ich erinnere mich, dass ich 800-Meter-Läufer Willi Wülbeck nach seinem WM-Titel 1983 besucht habe.

teleschau: Wie ging es weiter?

Leissl: Bei der WM 1987 habe ich einen avantgardeartigen Vorspann geschnitten, bei dem das Kolosseum durchs Bild flog. Das war damals State of the Art. An der Seite von Reporter Rolf Kramer war ich Redakteur und habe ihm in der Live-Sendung durch Zeichensprache oder Zettelchen geholfen. Ich habe damals das Metier des Reporters erlebt, indem ich neben ihm saß, und war überrascht, als man mich 1991 in Tokio bereits zum Live-Reporter gemacht hat. 1992 ist dann das Duo Leissl/Poschmann erstmals im Einsatz gewesen.

teleschau: Was macht für Sie das Faszinosum Leichtathletik aus?

Leissl: Das sind die Grundbewegungen des Menschen - Laufen, Werfen, Springen - umgesetzt in "Wer kann es am besten". Das ist fast schon eine ureigene Sportdisziplin, etwas ganz Grundlegendes. Das Faszinierende ist auch, dass es bei Männern und Frauen zusammengerechnet 46 Disziplinen gibt, die regelmäßig einen Weltmeister ermitteln. Auf diese Vielfalt muss man an einem Abend, an dem vieles im Programm ist, reagieren. Bei der Leichtathletik weiß man nicht, was auf einen zukommt. Zwar hat man dazu viele Informationen im Kopf, aber mit fortgeschrittenem Alter wird das auch immer schwieriger. (lacht)

teleschau: Wenn Sie die letzten Jahrzehnte in einem Zeitraffer vorbeiziehen lassen: Was hat sich in dieser Zeit hinsichtlich der Wahrnehmung von Leichtathletik geändert?

Leissl: Bei den Saisonhighlights in der Leichtathletik, den Welt- und Europameisterschaften, steigt die öffentliche Aufmerksamkeit weiterhin. Selbst wenn deutsche Athleten nicht so erfolgreich sind, schauen viele bei Weltmeisterschaften fasziniert zu und staunen über schnelle jamaikanische Sprinter oder über einen Schweden, der sechs Meter im Stabhochsprung überquert. Dennoch war das Interesse in den späten 80er- und frühen 90er-Jahren noch höher angesiedelt - trotz oder vielleicht auch wegen der Dopingvorwürfe damals.

teleschau: Wie ist es heute?

Leissl: Heute muss die Leichtathletik zusehen, dass sie nicht an Boden verliert. Es ist ja nicht nur der Fußball, sondern es sind auch viele neue Sportarten da, die ihren Platz einfordern. Die Leichtathletik muss aufpassen, dass sie nicht irgendwann mal als altmodisch verschrien wird. Deswegen sucht man ja auch nach neuen Wettkampfformaten.

teleschau: Sie haben als Live-Kommentator in einer Zeit angefangen, in der es noch kein Internet gab. Wie haben Sie sich damals auf die Wettkämpfe vorbereitet?

Leissl: Ich hatte vorher als Student im Sport-Archiv gearbeitet und deswegen das Archiv-Gen in mir. Als ich Redakteur wurde, habe ich mir Ordner mit den Weltbestenlisten angelegt. Damals habe ich das aus der DDR-Zeitschrift "Sportecho" oder aus der westdeutschen Zeitschrift "Leichtathletik" herauskopiert und es dann abgeheftet. Bei den Wettkämpfen hatte man zwar Startlisten, aber diese waren noch nicht kommentiert wie heute.

teleschau: Wann hat sich das geändert?

Leissl: Solche Statistiken gab es in ersten Ansätzen ab 1993. Bis dahin mussten wir noch handschriftlich Notizen machen, was mich in Hotelzimmern viele Nächte gekostet hat. Als die Erfassung der statistischen Daten bei der BBC automatisiert wurde, haben wir auch Verträge für diese Form der Informationsbereitstellung abgeschlossen. Seitdem geht es nur noch darum, herauszufiltern, was wichtig und erzählenswert ist. Außerdem sind heute sehr viele Monitore im Einsatz, ein Arsenal von Hilfsmitteln geradezu.

Nach der Pensionierung im Februar 2024 freut sich Peter Leissl auf Urlaub mit seiner Frau, eine Etappentour mit dem Fahrrad und Kreuzfahrten als Lektor. (Bild: ZDF / Rico Rossival)
Nach der Pensionierung im Februar 2024 freut sich Peter Leissl auf Urlaub mit seiner Frau, eine Etappentour mit dem Fahrrad und Kreuzfahrten als Lektor. (Bild: ZDF / Rico Rossival)

"Wolf-Dieter Poschmann und ich kamen pudelnass im Hotel an"

teleschau: Sie haben während Ihrer Zeit als Reporter die Welt gesehen - von Moskau über Peking und London bis Doha. Welche Städte sind Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?

Leissl: Zum Beispiel die Olympischen Spiele in Tokio, die Pandemie-Spiele. Da waren wir in Quarantäne und sind quasi nur zwischen Hotel und Stadion hin- und hergependelt. Das bleibt in Erinnerung, genauso wie die erste WM in Rom 1987. Damals gab es beim 400-Meter-Lauf im Zehnkampf einen Regenguss, die Bahn war fast überschwemmt. Wolf-Dieter Poschmann und ich sind nach dem Wettkampf noch durch das nächtliche Rom gejoggt, weil kein Bus mehr fuhr - und kamen pudelnass im Hotel an.

teleschau: Blieb trotz der Arbeit vor Ort auch Zeit, Land, Leute und Kultur kennenzulernen?

Leissl: Ja, wenngleich der Drang danach in den zurückliegenden Jahren eher nachgelassen hat. Man überlegt sich schon gut, ob es sich lohnt, sich ins Getümmel zu stürzen, wenn man ohnehin nur wenige Stunden frei hat. Aber gerade in meinen ersten Reporter-Jahren ging ich mit großen Augen durch die Welt. 1991 in Tokio machten wir zum Beispiel einen Ausflug in die Kaiserstadt Nikko, nördlich von Tokio. Auch mit dem ARD-Team zusammen gab es schöne Events.

teleschau: Zum Beispiel?

Leissl: Bei der Leichtathletik-WM in Göteborg 1995 konnten sich die Teams von ARD und ZDF zum Beispiel auf einer Bootsfahrt durch den Fjord kennenlernen. Bei der Leichtathletik-WM in Edmonton 2001 fühlte ich mich an die Zeit erinnert, in der ich für ein halbes Jahr in Kanada studiert hatte. Ich bin immer noch mit Herz und Seele Geograf und als Lektor auf Kreuzfahrtschiffen unterwegs. Das mache ich auch, damit nicht die Angst vor der Leere eintritt und ich diese Fähigkeiten einbringen kann, wenn ich im Februar pensioniert werde.

teleschau: Worauf freuen Sie sich besonders hinsichtlich des nahenden Ruhestandes?

Leissl: Ich freue mich darauf, dass ich ein wenig mehr planen kann, etwa den Urlaub mit meiner Frau, ohne von den beruflichen Terminen abhängig zu sein. Vielleicht kann ich auch öfter mal eine Kreuzfahrt machen, auf der ich dann als Lektor im Einsatz bin. Ich weiß noch nicht genau, wie ich den Sport begleiten werde. Sicherlich als TV-Konsument, doch ob ich zu Großereignissen anreisen werde, das ist noch nicht sicher. Ich würde auch gerne mal wieder eine Etappenfahrt mit dem Fahrrad planen, wenn es die Gesundheit erlaubt. Noch fühle ich mich fit.