Politik im Krisenmodus: Das innenpolitische Jahr in Namen
Berlin (dpa) - Sein erstes Jahr als Kanzler hat sich Olaf Scholz sicher anders vorgestellt. Die Hoffnung auf normale Regierungszeiten nach der Corona-Krise war Ende Februar durch den russischen Angriff auf die Ukraine dahin. Der Krieg und seine Folgen bestimmten das Regierungshandeln. Ein Überblick der Politikerinnen und Politiker in Deutschland, die das Jahr 2022 prägten:
Olaf Scholz: Zeitenwende für den Kanzler
Zweieinhalb Monate nach seiner Vereidigung ändern sich die Umstände für die Kanzlerschaft von Olaf Scholz fundamental. Den Angriff Russlands auf die Ukraine wertet er als Zeitenwende. Er verkündet ein riesiges Aufrüstungsprogramm für die Bundeswehr. Noch gigantischer fallen Entlastungsprogramme aus, der «Doppel-Wumms» soll vor allem für bezahlbare Energie sorgen. Gleichwohl muss sich Scholz auch immer wieder Zögerlichkeit vorwerfen lassen, etwa bei Waffenlieferungen an die Ukraine. Nicht ganz einfach ist es für Scholz, den Fliehkräften in der Koalition entgegenzuwirken. Für längere Laufzeiten der verbliebenden drei Atomkraftwerke spricht er ein Machtwort und greift zum seltenen Mittel der Richtlinienkompetenz.
Frank-Walter Steinmeier: Präsident mit beschränkter Macht
Elf Tage vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine wird der Bundespräsident für eine zweite Amtszeit gewählt. Auch wenn Steinmeier in Richtung Moskau immer wieder klare Worte findet, muss er sich für seine frühere Russlandpolitik rechtfertigen. Steinmeier sucht die Nähe zu den Menschen, verlegt tageweise seinen Amtssitz symbolisch in die Bundesländer, mahnt zum Zusammenhalt in der sich polarisierenden Gesellschaft. Dennoch hat es ein Bundespräsident, dem nur die Macht des Wortes bleibt, in Krisenzeiten schwer, durchzudringen.
Robert Habeck: Die Nöte des Wirtschaftsministers
Längere Laufzeiten von Kohle- und Atomkraftwerken, Flüssiggasterminals an der Küste, Suche nach Erdgaslieferanten - für einen Grünen eigentlich Teufelszeug. Doch als Wirtschaftsminister muss Robert Habeck dies durchsetzen, damit die deutsche Wirtschaft nicht kollabiert und die Menschen nicht frieren müssen. Die Energiepreise sind drastisch gestiegen, Habecks Ruf in Umfragen hat zuletzt stark gelitten. Die gescheiterte Gasumlage und das Gezerre um Gas- und Strompreisbremsen dürften daran einen Anteil haben.
Christian Lindner: Das Mantra des Finanzministers
2023 werde die Schuldenbremse nach dem coronabedingten Ausgabeboom wieder eingehalten - keinen Satz hat Christian Lindner in diesem Jahr vermutlich häufiger gesagt. Die Unsummen zur Bewältigung der Kriegsfolgen werden in Sondervermögen verwaltet, also außerhalb des Bundeshaushalts. Immer wieder eckt Lindner mit Wirtschaftsminister Habeck an. Als Parteichef blickt Lindner auf ein enttäuschendes Jahr. Die Liberalen fliegen aus zwei Landesregierungen und kommen in zwei Landtage erst gar nicht rein. Bei Umfragen im Bund liegt die FDP weit von ihrem Bundestagswahlergebnis (11,5 Prozent) entfernt.
Annalena Baerbock: Ritterschlag aus den USA
Die Krisen der Welt bestimmen den Alltag und Reisekalender der ersten deutschen Außenministerin. Frisch im Amt hat sie zudem die G7-Präsidentschaft zu managen. Anders als Parteifreund Habeck steht sie zum Ende des ersten Regierungsjahres weit oben in den Beliebtheitsrankings der Deutschen. Der Ritterschlag kommt aber aus den USA. Das US-Magazin «Time» kürt sie im Herbst zu den 100 aufstrebenden Persönlichkeiten der Welt. Und ihr US-Amtskollege Antony Blinken lobt sie als Partnerin, die «nahtlos Prinzipien und Pragmatismus vermischt».
Eine Neue und drei gestandene Regenten in den Ländern
In gleich 4 der 16 Bundesländer wurden die Landtage neu gewählt. Am Ende des Jahres steht es 2:2 zwischen SPD und Union. Den Auftakt macht das Saarland am 27. März. Die SPD fährt einen fulminanten Wahlsieg ein, in der Folge kann sie die einzige Alleinregierung in Deutschland ohne Koalitionspartner bilden. Neue Ministerpräsidentin wird Anke Rehlinger, sie löst den Christdemokraten Tobias Hans ab.
Bei den anderen drei Landtagswahlen können sich die amtierenden Ministerpräsidenten behaupten, die Koalitionen ändern sich aber. In Schleswig-Holstein koaliert die CDU von Daniel Günther nun mit den Grünen statt zuvor in einem Jamaika-Bündnis mit Grünen und FDP. Auch in Nordrhein-Westfalen hat Ministerpräsident Hendrik Wüst mit seiner CDU nun die Grünen als Partner. Und in Niedersachsen wechselt die SPD mit Regierungschef Stephan Weil den Koalitionspartner aus, die Grünen regieren hier nun statt der CDU mit.
Ein Wechsel im Bundeskabinett
Die im Dezember 2021 im Bundestag vereidigte Ministerriege ist ein Jahr später noch fast dieselbe, mit einer Ausnahme. Familienministerin Anne Spiegel von den Grünen wird von ihrer Rolle bei der Ahrflut im heimischen Rheinland-Pfalz eingeholt und tritt im April zurück. Nachfolgerin wird Lisa Paus.
Karl Lauterbach: Der ewige Mahner
Der Gesundheitsminister hat im dritten Corona-Jahr einen schweren Stand. Er bleibt ein Mahner zur Vorsicht, auch wenn im Jahresverlauf kaum noch jemand etwas von Corona hören will. Mit dem geänderten Infektionsschutzgesetz liegt nun viel Entscheidungsbefugnis bei den Ländern, die diese - teils zum Missfallen Lauterbach - auch nutzen. Stärker konzentriert sich Lauterbach nun auf Reformen, etwa der Kliniklandschaft.
Viele Parteien mit neuem Spitzenpersonal
Nach der Bundestagswahl dreht sich Anfang 2022 auch das Personalkarussell an den Spitzen mehrerer Parteien. Die CDU macht Friedrich Merz im Januar zu ihrem Vorsitzenden. Merz übernimmt im Februar dann auch den Fraktionsvorsitz von CDU/CSU und löst Ralph Brinkhaus ab. Bei den Grünen rücken Ricarda Lang und Omid Nouripour im Februar an die Parteispitze, nachdem das Vorgängerduo Baerbock und Habeck Ministerposten übernommen hatte. Die SPD hatte bereits im Dezember 2021 Lars Klingbeil zum Co-Vorsitzenden neben Saskia Esken gewählt, bei der FDP behielt Christian Lindner trotz des Jobs als Finanzministers den Vorsitz.
Bei den kleineren Oppositionsparteien gibt es im Juni Personalwechsel an der Spitze. Nachdem der langjährige AfD-Chef Jörg Meuthen die Partei verlassen hatte, wählt die Partei Alice Weidel zur Co-Parteichefin neben Tino Chrupalla. Die Linke macht nach dem Rückzug von Co-Parteichefin Susanne Hennig-Wellsow den Europapolitiker Martin Schirdewan zum Vorsitzenden neben Janine Wissler.
Was macht eigentlich Angela Merkel?
Die langjährige Kanzlerin hält Wort und mischt sich nicht in die Tagespolitik ein. Sie muss trotzdem viel Kritik einstecken für ihre in Trümmern liegende Russlandpolitik nebst schwerwiegenden Folgen für den deutschen Energiesektor. In wenigen öffentlichen Auftritten verteidigt sie ihre Politik. Angenehmer war vermutlich ihr Besuch bei Ex-US-Präsident Barack Obama im Sommer, der sie eine «Freundin» nennt.