"Prostituierte kippten schon mal Wasser aus dem Fenster": Auf den Spuren der "Hamburger Schule"

Musiker Dirk von Lowtzow schaffte es mit seiner Band Tocotronic, zum Superstar der Hamburger Schule aufzusteigen. Dabei entstand der Sprachwitz der frühen Tocotronic-Songs dadurch, dass von Lowtzow sie vom Englischen ins Deutsche rückübersetzte. In der Doku  "Die Hamburger Schule" erzählt er davon. (Bild: NDR/Sven Wettengel)
Musiker Dirk von Lowtzow schaffte es mit seiner Band Tocotronic, zum Superstar der Hamburger Schule aufzusteigen. Dabei entstand der Sprachwitz der frühen Tocotronic-Songs dadurch, dass von Lowtzow sie vom Englischen ins Deutsche rückübersetzte. In der Doku "Die Hamburger Schule" erzählt er davon. (Bild: NDR/Sven Wettengel)

In den späten 80er- und 90er-Jahren entstand eine neue Idee von Popmusik in Deutschland. Obwohl die Bands der Hamburger Schule unterschiedlich klangen, sind sie für das verantwortlich, was wir heute - wie selbstverständlich - hören. Die Doku "Die Hamburger Schule" (ARD Mediathek) erinnert daran.

Wer heute Max Giesinger, Johannes Oerding oder auch deutschen Rap hört, vergisst meist, dass solche Musik ohne eine deutsche Musikrevolution namens Hamburger Schule kaum möglich gewesen wäre. Bands wie Tocotronic, Blumfeld oder Die Sterne erfanden deutschen Pop und das Reden über Dinge zu Musik Ende der 80-er bis Mitte der 90-er einfach mal neu. Die zweiteilige Doku "Die Hamburger Schule" von Natascha Geier erinnert (ab Dienstag, 28. Mai, in der ARD Mediathek) an die Geschichte dieser Bewegung.

Dafür hat die Filmemacherin, als Studentin mit Anfang 20 selbst im Hamburger Nachtleben sozialisiert, wichtige Macherinnen und Macher von damals aufgesucht. Mit ihnen besuchte sie mythische Orte, sozusagen die Klassenzimmer der Hamburger Schule. Deutlich gereifte, klug reflektierende Protagonisten wie Rocko Schamoni, Dirk von Lowtzow und Jan Müller (Tocotronic), Bernadette Hengst (Die Braut haut ins Auge), Frank Spilker (Die Sterne), Christiane Rösinger (Lassie Singers) oder Schorsch Kamerun und Ted Gaier (Die goldenen Zitronen) erinnern sich.

Die Bands, die sich damals in Hamburg formierten, waren sehr unterschiedlich. "Doch ein paar Dinge hatten sie gemein", sagt eine der Protagonistinnen zu Beginn der mit zweimal 30 Minuten angenehm kompakten Doku. Die Texte der Hamburger waren "deutsch, reflektiert, kompliziert, ironisch und um die Ecke gedacht". So grenzte man sich ab von Schlager und Neuer Deutscher Welle, dem letzten Versuch Anfang der 80-er, Pop und deutsche Sprache zu versöhnen. Eigentlich entstand die Hamburger Schule mit frühen Bands wie Kolossale Jugend oder Die goldenen Zitronen zu einem Zeitpunkt, als es maximal uncool war, in deutscher Sprache zu texten und zu singen.

Dinge, über die selbst Linke früher nicht nachdachten: Musikerin Bernadette Hengst von der Band "Die Braut haut ins Auge" erinnert sich daran, dass die Hamburger Schule schon ganz schön männlich - und auch durchaus machistisch - geprägt war. (Bild: NDR/Sven Wettengel)
Dinge, über die selbst Linke früher nicht nachdachten: Musikerin Bernadette Hengst von der Band "Die Braut haut ins Auge" erinnert sich daran, dass die Hamburger Schule schon ganz schön männlich - und auch durchaus machistisch - geprägt war. (Bild: NDR/Sven Wettengel)

Versammelte Underground-Starpower

Natürlich gehört zu einer Bewegung auch die richtige Stadt. Die Hamburger Schule fand auf St. Pauli und im Schanzenviertel eine Heimat. Sie war aber auch ein Lebensgefühl, heißt es im Film. Orte wie der "Golden Pudel Club" oder "Heinz Karmers Tanzcafé" waren Kaschemmen einer Zeit, "als St. Pauli noch rau war und die Nächte voller Möglichkeiten - sowohl positive als auch negative", erinnert sich einer der Kreativen von damals. Die im Film fast vollständig versammelte Underground-Starpower von damals ist heute in ihren 50-ern oder Anfang 60.

Der Aufstieg unterhaltsam ironischer, aber auch anheimelnder Musikclubs auf dem Hamburger Kiez hatte auch mit dessen Krise zu tun. Wegen der Aids-Pandemie hatten viele dem käuflichen Sex verpflichtete Etablissements mittlerweile geschlossen.

Künstler und Pop-Verrückte eröffneten runtergerockte Bars neu, in denen alles möglich war: Schräge Musik, Kunst-Performance oder eine Mischung aus beiden wurde hier gegeben. Doch nicht jeder wollte das hören. "Die Prostituierten kippten schon mal Wasser aus dem Fenster über Konzertbesucher vor der Clubtür", erinnert sich der Journalist Christoph Twickel. Und natürlich gehörte in der Prä-Internetzeit, als man noch Plattenfirmen von sich überzeugen musste, um es als Band oder Musiker zu schaffen, auch Labels wie Buback und L'age D'Or zum Hamburger Erfolgsmodell. Auch L'age D'Or-Gründer Carol von Rautenkranz erinnert sich im Film humorvoll und analytisch an die damalige Zeit.

Frank Spilker von der Band "Die Sterne" brachte der Hamburger Schule das Grooven bei. Dabei waren die Lieder der Band so textreich, dass man beim Mitsingen richtig arbeiten musste. Den Leuten gefiel's trotzdem. "Die Sterne" erhielten einen großen Plattendeal - was in der Szene für Reibungen sorgte. (Bild: NDR/Sven Wettengel)
Frank Spilker von der Band "Die Sterne" brachte der Hamburger Schule das Grooven bei. Dabei waren die Lieder der Band so textreich, dass man beim Mitsingen richtig arbeiten musste. Den Leuten gefiel's trotzdem. "Die Sterne" erhielten einen großen Plattendeal - was in der Szene für Reibungen sorgte. (Bild: NDR/Sven Wettengel)

"Unser 70er-Jahre-Rentnerlook, Cordhose und alte Trainingsjacken"

Im zweiten Teil der Doku geht es dann intensiver um die etwas später eingeschulte, aber dafür umso erfolgreichere Band Tocotronic. Deren Sänger und Texter Dirk von Lowtzow erzählt, wie der Sprachwitz der frühen Tocotronic-Songs dadurch entstand, dass er sie vom Englischen ins Deutsche rückübersetzte. Auch modisch veränderten Tocotronic Deutschland. "Unser 70er-Jahre-Rentnerlook, Cordhose und alte Trainingsjacken, war nie als modischer Stil geplant", sagt er. Und doch wurde er in ganz Deutschland von Studenten und anderen jungen Leuten als State-of Mind-Uniform kopiert.

Mit dem Erfolg beim Publikum kamen jedoch auch kritische Stimmen in der linken Hamburger Künstlerszene auf. Ted Gaier von den Goldenen Zitronen drehte 1996 das Video zum Die Sterne-Song "Was hat dich bloß so ruiniert". Als die Band einen "Major Deal" bei einer großen Plattenfirma ergattert hatten und auf einmal 50.000 Alben verkauften, sah sich die Hamburger Schule in einer Art Sinnkrise. Wer ist man denn noch, wenn plötzlich alle alternative Kunst gut finden? Mit Ted Gaier kreierte der größte Kritiker des Kommerzes das bei Viva und MTV rauf und runter gespielte Video zum Song. Viele Hamburger Schule-Mitglieder spielten darin eine Art Persiflage auf den Erfolg im Musikgeschäft. Ein historisches Statement und irgendwie typisch für die ambivalente Haltung der Hamburger Schule zwischen Kunst und Kommerz.

Rocko Schamoni sollte in der Frühzeit der Hamburger Schule von der Musikindustrie als Nachfolger der damals aufgelösten Die Ärzte aufgebaut werden. Das Projekt "King Rocko Schamoni" war kurzlebig. Danach ging der vielseitig begabte Rocko Schamoni zurück in den Untergrund. Heute inszeniert er am "Hamburger Schauspiel".  (Bild: NDR/Sven Wettengel)
Rocko Schamoni sollte in der Frühzeit der Hamburger Schule von der Musikindustrie als Nachfolger der damals aufgelösten Die Ärzte aufgebaut werden. Das Projekt "King Rocko Schamoni" war kurzlebig. Danach ging der vielseitig begabte Rocko Schamoni zurück in den Untergrund. Heute inszeniert er am "Hamburger Schauspiel". (Bild: NDR/Sven Wettengel)

"Diese ganze Popkultur war sehr jungslastig"

Tatsächlich fanden sich in der Hamburger Schule Prinzipien, wie man sie sich heute im Musik- und Kunstgeschäft gar nicht mehr vorstellten kann: "Man wollte nicht vor einem Jägermeister-Logo spielen. Und wenn VW Tourbusse zur Verfügung stellte, war das den meisten auch schon zu viel Marketing, das man nicht wollte", erinnert sich einer der Musiker im Film. Der Musiksender Viva hatte damals die Idee, einen Preis namens "Jung, deutsch und auf dem Weg nach oben" ins Leben zu rufen. 1996 sollte die "Komet"-Trophäe im Rahmen einer großen Gala an Tocotronic verliehen werden. Sie lehnten unter Pfiffen im Saal ab. "Wir sind nicht stolz darauf, jung zu sein. Und wir sind auch nicht stolz darauf, deutsch zu sein", fasste Jan Müller von Tocotronic die Haltung der Band zusammen.

Neben solchen Aktionen, für die sich die Hamburger Schule heute noch auf die Schultern klopfen darf, legt Filmemacherin Natascha Geier aber auch den Finger in eine Wunde, die vielleicht erst aus heutiger Sicht auffällt. "Diese ganze Popkultur war sehr jungslastig", gibt Schorsch Kamerun von Die goldenen Zitronen im Film zu. Und Journalist Twickel fügt hinzu: "Es gab eine Menge Mansplaining". Auf der Bühne standen junge, "kluge" Männer. Und davor weibliche Bewunderer, die allerdings hinter den Kulissen die Hamburger Schule nach vorne brachten. Journalistinnen wie Kerstin Grether von der einflussreichen Zeitschrift "Spex" oder Musikmanagerinnen wie Charlotte Goltermann vom Label Ladomat, das der Hamburger Schule die Elektronik beibrachte.

Die distinguierte Rebecca Walsh, bekannt als "Nixe", war eine der wichtigsten Sängerinnen der "Hamburger Schule". Unter anderem in den Bands "Huah!" und bei den "Mobylettes" hinterließ sie ihre Spuren. (Bild: NDR/Sven Wettengel)
Die distinguierte Rebecca Walsh, bekannt als "Nixe", war eine der wichtigsten Sängerinnen der "Hamburger Schule". Unter anderem in den Bands "Huah!" und bei den "Mobylettes" hinterließ sie ihre Spuren. (Bild: NDR/Sven Wettengel)

Eine der besten Popmusik-Geschichtsstunden seit langem

Immerhin: Ein paar weibliche Bands gab es. "Die Braut haut ins Auge" mit Bernadette Hengst oder Nixe Walsh von den Mobylettes und Huah!, beide ebenfalls sehr präsent in der Doku. Abseits der Einflüsse auf den heutigen Pop, der seit der Hamburger Schule keine Probleme mehr mit deutschen Texten hat, finden sich Spuren der Bewegung heute in der gesamten Kunst wieder: Daniel Richter, der im Umfeld der Band Die goldenen Zitronen Plattencover, T-Shirts und Plakate entwarf, gehört heute international zu den bekanntesten deutschen Malern.

Auch Popliteratur entstand damals. Autoren wie Benjamin von Stuckrad-Barre begannen als Praktikanten bei Plattenlabels der Hamburger Schule. Die Underground-Musiker Rocko Schamoni und Schorsch Kamerun inszenieren heute gefeierte Theaterstücke an großen deutschen Bühnen und Heinz Strunk von der Hamburger Gaga-Comedytruppe Studio Braun (mit Schamoni) ist ein gefeierter Literat.

Vor allem aber hat die Hamburger Schule die Sprache des Pop für immer verändert. Rebecca Spilker, Augenzeugin und Künstlerin aus Hamburg, nennt es im Film eine "Gefühligkeit und Direktheit", die seit damals aus deutschen Texten nicht mehr wegzudenken ist. Für Musikfans, die sich an jene Zeit erinnern, ist die Doku "Die Hamburger Schule" eine starke Zusammenfassung und Reflexion dessen, was damals Großes geschah. Für die anderen ist es eine der besten Popmusik-Geschichtsstunden seit langem.

Der international erfolgreiche Künstler Daniel Richter fing ebenfalls in der "Hamburger Schule" an. Er gestaltete Plakate, Flyer und Plattencover. Sein Weg ist eng mit dem der Band "Die goldenen Zitronen" verknüpft. (Bild: NDR/Sven Wettengel)
Der international erfolgreiche Künstler Daniel Richter fing ebenfalls in der "Hamburger Schule" an. Er gestaltete Plakate, Flyer und Plattencover. Sein Weg ist eng mit dem der Band "Die goldenen Zitronen" verknüpft. (Bild: NDR/Sven Wettengel)