"Reißt euch mal ein bisschen zusammen, ihr Heulsusen!"

Egal ob Klassik, Punk oder Clubmusik: Die DJ-Legende WestBam schreckt vor keiner musikalischen Herausforderung zurück. Jetzt redet der 55-Jährige Klartext über die Zukunft der Musik. "Wenn jetzt alle vom Untergang der Clubkultur jammern", so WestBam, "denke ich mir: 'Reißt euch mal ein bisschen zusammen, ihr Heulsusen."

In der ZDF-Reihe "Klassik im Club" verschwimmen die musikalischen Genregrenzen - und werden zu spannenden Arrangements: Am Freitag, 21. August, 23.00 Uhr, treffen in einem alten Stummfilmkino in Berlin die norwegische Geigerin Eldbjørg Hemsing und die deutsche DJ-Legende WestBam aufeinander und verbinden ihr Können auf der Bühne. Für den aus Münster stammenden Musiker, der bürgerlich Maximilian Lenz heißt, kein Problem: Der 55-Jährige ist nicht schreckhaft, wie er im Interview berichtet. Klassische Musik habe er sowieso schon immer gehört, heute sei er Blues-Kenner, Punk ist für ihn immer wieder Thema, und früher hat sich auch schon eine Verbindung zwischen seinen Tracks und den Berliner Philharmonikern ergeben. Und was denkt der DJ über die Entwicklung der heutigen Musik und über die Folgen der Corona-Pandemie?

teleschau: Wie stellen Sie sich die Clublandschaft vor, wenn die Krise endlich überstanden ist?

WestBam: Das stelle ich mir sehr schön vor. Aktuell zeichnen die Leute eher Horror-Szenarien von einer zerstörten Club-Kultur, die sich nicht mehr wiederherstellen lässt. Aber zum einen glaube ich, dass ein Neustart neue Energie freisetzen und neue Kreativität wecken kann. Zum anderen haben die Leute das Nachtleben vor ihrem zwanghaften Verzicht als Selbstverständlichkeit wahrgenommen. Ich prognostiziere eine große Renaissance des Nachtlebens, sobald es wieder möglich ist. Uns erwartet eine neue Blüte des Nachtlebens.

teleschau: Aktuell klingen eine Öffnung der Clubs oder die Durchführung von Festivals illusorisch. Wie sehr sind Sie auf Entzug?

WestBam: Ich lege jetzt 37 Jahre auf und hatte noch nie einen so langen Break. Das ist schon einmalig. Ich vermisse es schon, wobei ich noch den ein oder anderen Streaming-Gig spiele. Und dann habe ich ja das zweite Standbein der Tanzmusik. Die spiele ich zwar gerne direkt im Club, aber auch wenn das nicht möglich ist, macht es mir Spaß. Das ist mir ja Gott sei Dank noch nicht genommen worden.

teleschau: Ärgert es Sie, dass die Öffnung der Clubs bisher überhaupt nicht diskutiert wird?

WestBam: Klar wir sind am härtesten betroffen, aber wir verdienen nun einmal unser Geld in geschlossenen Räumen. Da tanzen Leute bei heißer Luft und hoher Raumfeuchtigkeit eng beieinander. Da habe ich natürlich Verständnis dafür, dass das bei einer ansteckenden Lungenkrankheit, die sich durch Tröpfchen überträgt, wohl einer der letzten Orte sein wird, die wieder öffnen.

"Ich bin vom Blues-Hasser zum Blues-Kenner geworden"

teleschau: Nutzen Sie die Pause denn auch, um neue Musik zu entdecken?

WestBam: Im Corona-Lockdown bin ich vom Blues-Hasser zum Blues-Kenner geworden und traue mir durchaus zu, mal eine Blues-Sendung für radioeins zu machen. Wenn man plötzlich Zeit hat, kommt man auf solche Ideen. Als Kind war Blues der absolute Todfeind. Dabei ist das ein Eckstein der Populärkultur.

teleschau: Bei "Klassik im Club" sollen Genregrenzen verschwimmen. Gab es denn Berührungsängste aufseiten der klassischen Künstler?

WestBam: Ich habe mit einer sehr jungen, talentierten Geigerin aus Norwegen zusammengearbeitet. Überraschenderweise kannte sie sogar meine Musik. Innerhalb der norwegischen Klassik-Szene wäre es keine Bildungslücke gewesen, noch nichts von WestBam gehört zu haben. Von dieser Seite war also das wohlwollende Interesse da.

teleschau: Und von Ihrer Seite?

WestBam: Ich bin ja sowieso nicht schreckhaft. Außerdem lebt die DJ-Kultur davon, Dinge zusammenzumischen, die zuvor nicht zusammengepasst haben. So entstehen alle neuen Stile. Von meiner Seite aus war das überhaupt kein Problem.

teleschau: Gibt es auch Gemeinsamkeiten zwischen beiden Genres?

WestBam: Über die berühmten sieben Töne, auf denen europäische Musik basiert, klingt von Klassik bis Techno alles irgendwie vertraut. Ich habe im Laufe meines Lebens gemerkt, dass sich bestimmte dramatische Abfolgen im Aufbau ähneln: egal, ob das jetzt ein Gedicht ist, ein Gemälde, eine Sinfonie, oder ein DJ-Set. Es gibt immer ähnliche Fragen und ähnliche Antworten. In allen kreativen menschlichen Formen gibt es große Verwandtschaft. Die Frage ist: An welcher Stelle bringe ich etwas Neues und wo lieber etwas Vertrautes?

teleschau: Sie stammen aus einer Bildungsbürger-Familie. Hatten Sie schon früh Berührung mit der Klassik?

WestBam: Mein Vater hat auch schon in den 60-ern "Air" von Johann Sebastian Bach gehört - und ich als kleines Kind mit. Aus bildungsbürgerlicher Sicht ist es wohl schon ein kleiner Nasenrümpfer, dass ich so einen Klassik-Schlager verwende. Ich habe eine echte Obsession mit diesem Lied. So habe ich auch im Laufe meiner DJ-Musik-Karriere mehrere Tracks daraus entwickelt, zuletzt den Track "Time Marches On" für mein neues Album.

"Rapper sollten lieber über realistischere Szenarien als Familienfehden und Waffen in Spielotheken nachdenken"

teleschau: Versuchen Sie auch, Ihren Söhnen die Klassik näherzubringen?

WestBam: Also Klassik hören die nicht (lacht). Wobei, manchmal läuft Klassik ja auch als Loop im Gangsta-Rap. Da gibt es noch am Ehesten Berührungspunkte.

teleschau: Das ist nicht gerade Ihr Lieblings-Genre ...

WestBam: Gegen die Musik als solche habe ich nichts, ich bin schließlich selbst zum Teil HipHop-sozialisiert. Aber wenn man nur noch in so einer Gangsta-Rap-Welt lebt, dann finde ich es anstrengend. Diese Rapper sollten vielleicht lieber über realistischere Szenarien als Familienfehden und Waffen in Spielotheken nachdenken.

teleschau: In dem Fall können Sie den Geschmack Ihrer Söhne also nicht nachvollziehen?

WestBam: Meine Tante sagte mir schon vor 30 Jahren: "Warte mal ab mein Junge, du wirst eines Tages auch nicht mehr ganz so eins sein mit der Jugend." Tatsache ist: Der Jugend gefällt immer wieder neue Musik, die den Alten total fremd und blöd vorkommt.

teleschau: Was hätte der junge WestBam, der frisch nach Westberlin gezogen ist, wohl von "Klassik im Club" gehalten?

WestBam: Es ist schon etwas Gesetteltes. Aber bereits mein erster Gig in Berlin wurde von FM Einheit, dem Perkussionisten der Einstürzenden Neubauten, begleitet. Ich war also durchaus früher schon offen für Vergleichbares. Und ehrlich gesagt, wenn mir damals mit 19 jemand angeboten hätte, dass die Berliner Philharmoniker über meinen Track spielen, hätte ich das auch gemacht (lacht). Einfach, weil ich es interessant gefunden hätte. Die Philharmoniker bekommt man aber erst angeboten, wenn man 55 ist. Das ist ja auch noch früh genug.

teleschau: War "Klassik im Club" für Sie dennoch ein Abenteuer?

WestBam: Aus DJ-Sicht war es natürlich nicht das große Abenteuer. Denn für einen DJ geht das Abenteuer frühestens ab zwei Platten los, nicht, wenn man nur ein Stück spielt. Aber von meinem DJ-Pult aus diese zwölf Geiger zu sehen, die mit einer wahnsinnigen Präzision und Geschwindigkeit ihre Parts über mein Lied spielen, hatte diesen Charakter. Es war also mehr ein Abenteuer als Zuschauer denn als aktiver Musiker.

teleschau: Haben Ihnen die gewohnte Spontaneität und Interaktion mit dem Publikum gefehlt?

WestBam: Klar. Dieser Part fiel komplett weg. Allerdings wird Interaktion als Teil der DJ-Kunst heute auch bei den Monster-Events vergessen. Bei meinen Sets ist die Freude am Spielen immer noch da. Ich gehöre zu den DJs, die noch "Off-Script" gehen können. Ich habe zwar einen Plan im Kopf, kann aber noch situativ davon abweichen.

"Vielleicht befinden wir uns im postmusikalischen Zeitalter"

teleschau: Welches Publikum war denn bei "Klassik im Club" anzutreffen?

WestBam: Wenn man überhaupt keine Freude an Klassik hat, geht man zu so was nicht hin. Der typische Klassik-Fan sagt aber vielleicht: "Das ist nicht die reine Schule" (lacht). Wenn ich das Publikum mit meinem letzten Besuch in der Philharmonie vergleiche, waren die Leute noch einen Zacken jünger. Es ging ja auch eher darum, das Spektrum zu erweitern, als eine alteingesessene Zielgruppe zu bedienen.

teleschau: Wohin entwickelt sich Ihrer Meinung nach die Musik-Branche?

WestBam: Von den 50-ern bis zu den Nullerjahren lebten wir definitiv im musikalischen Zeitalter. Man könnte jetzt diskutieren, ob neue Ideen irgendwann vermehrt von YouTubern, Gamern oder Influencern kommen. Ich selbst muss nicht vom Influencer "influenced" werden, aber das ist möglicherweise die Zukunft.

teleschau: Welche aktuellen Trends nehmen Sie wahr?

WestBam: Meine Kids hören zwar viel Rap, aber noch lieber hören sie die Interviews von diesen Typen. Es geht nicht um die Rap-Lyrik, sondern die groß aufgezogene Pöbelei. Wir haben uns zwar früher auch mal ein Interview von beispielsweise Johnny Rotten angehört, aber im Verhältnis waren es eher 95 Prozent Musik und heute ist es bestenfalls 50:50. Vielleicht befinden wir uns im postmusikalischen Zeitalter. Das wäre natürlich schrecklich. Aber ich werde mich dem nie beugen. Das ist eine Kampfansage (lacht).

teleschau: Da Sie Johnny Rotten erwähnen: Ist Punk noch ein Thema für Sie?

WestBam: Im Prinzip habe ich mir die Frage: "Bin ich jetzt noch Punk" bereits mit 15 gestellt. Also Campino und ich müssen das noch lebenslänglich abarbeiten. Aber manchmal trifft man diese "DJ-Sissis", die an den Hotels herumnörgeln. Das sind die Momente, in denen ich merke: "Verdammt, ich bin Punkrock." Klar ist die Mega-Suite mal schön, aber ich übernachte auch in einem abgerissenen Loch.

teleschau: Sie ecken also nach wie vor gerne an?

WestBam: Ich habe durchaus meine Freude am Nerven und Provozieren. Vor allem, wenn alle in eine Richtung beten. Wenn jetzt beispielsweise alle vom Untergang der Clubkultur jammern, denke ich mir: "Reißt euch mal ein bisschen zusammen, ihr Heulsusen." Ich brauche für Clubkultur nicht mehr als ein paar Boxen, einen Verstärker und ein Stroboskop in der Ecke. So ähnlich ging es mit Techno in Berlin los. Es wird also auf jeden Fall weitergehen, auch wenn manche Angst um ihre Dance-Paläste haben (lacht). Sollen gerne alle Glitzerwelten vom Staat mit Millionen unterstützt werden, aber ich brauche nur eine ordentliche Bassbox - und dann geht's auch ab.