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„Resignieren gilt nicht“: Klinikum Merheim – Ein Vormittag auf der Intensivstation

Pflegekräfte in Krankenhäusern arbeiten unter großem Druck.

In den neuen Kleidern sieht der Gast aus wie alle anderen auf der Station. Doch beim blauen Kasack mit V-Ausschnitt, der blauen Hose mit dem seitlichen Schnürband und den roten Crocs hören die Gemeinsamkeiten auf. Die „Neue“ kann nichts. Nicht helfen, nicht eingreifen. Nur zusehen und inständig hoffen, möglichst wenig zu stören. Als sich die Pflege-Novizin um 7.37 Uhr auf der SV-Station im Krankenhaus Merheim bei Andrea Harff meldet, ist die stellvertretende Stationsleiterin ebenso wie ihre Kolleginnen und Kollegen schon seit 6.06 Uhr im Dienst. Die Übergabe von der Nachtschicht, die erste Ausgabe von Medikamenten, Visite, Medikamentenstellen für den Tag und der Übernahme-Check an den Patientenbetten sind schon erledigt. In den nächsten Stunden führt Andrea Harff ein Schattendasein, der Gast folgt ihr auf Schritt und Tritt. So ist jedenfalls der Plan. SV steht für Schwerstbrandverletztenstation. Die Intensivstation gehört zum Fachbereich der plastischen Hand-, Wiederherstellungs- und Kieferchirurgie. Im Frühdienst arbeiten fünf, im Spätdienst vier und in der Nachtschicht drei examinierte Pflegekräfte auf der Station. 7.43 Uhr Ein Patient wird zu seiner Operation gebracht. Er ist bereits sediert. Der Weg von der Station in den OP-Bereich ist nicht weit, aber ein paar enge Kurven wollen erst einmal bezwungen werden. Das Bett ist etwa 90 Zentimeter breit, 2,20 Meter lang und 140 Kilogramm schwer. Das ist kein Zufall. Es ist ein Medizinprodukt und hat als solches den deutschen Medizinproduktegesetzen zu folgen. Für unsere Fahrt wäre es wesentlich angenehmer, wenn weniger von diesen DIN-geprüften Dingern auf dem Flur stehen würden. Ein Schild an der Wand mahnt: „Nicht mehr als sechs Betten“. Der Hinweis wird voll ausgeschöpft. Mit Patient und Bett geht es in die Einschleusung des OP-Bereiches, Umlagerung Patient, mit leerem Bett zurück. 8.22 Uhr Andrea Harff bezieht Kopfkissen und Bettdecke neu, wechselt die Laken. Der Eingriff wird vermutlich nicht lange dauern. Es ist eine Folge-OP. Ganz anders als die erste. Dem Mann fehlt eine Hand. In einer mehr als 13-stündigen Operation nähte Dr. Walter Perbix, Oberarzt in der plastischen Chirurgie, die Hand wieder an. Nächster Patient: Verbrennungen dritten Grades 8.40 Uhr Haube, Mundschutz, Handschuhe und Überziehkittel landen im Wäschekorb. Bevor Andrea Harff das Zimmer des nächsten Patienten betritt, vollzieht sich die Einkleidung rückwärts. Alles wieder neu, beim Rausgehen alles wieder weg. Gemeinsam mit einer Kollegin geht es ins Zimmer eines jungen Mannes. Er liegt bereits seit einigen Wochen auf der Station. Eingeliefert wurde er mit schweren Verbrennungen, zum Teil dritten Grades. Etwa 60 Prozent seiner Hautoberfläche sind betroffen. Der Mann war auf einen Kesselwagen gestiegen, geriet dort zu nah an die Hochspannungsleitung und hatte einen Stromschlag erlitten. Der Patient muss umgelagert und gewaschen werden. Der Gast bleibt vor der Tür. Freiwillig. Drinnen reden die Profis behutsam mit dem Verletzten, erklären jeden Handgriff. Ein Verbandwechsel steht gerade nicht an. Der würde vier bis fünf Stunden dauern. Im Patientenzimmer herrscht dann eine Temperatur von 35 Grad und eine Luftfeuchtigkeit von über 40 Prozent. So soll der Gefahr der Auskühlung – die Verbrennungsopfer verfügen über keine ausreichende Wärmeregulierung – und der Austrocknung der Wunden begegnet werden. Das muss nicht nur für die Verletzten eine unfassbare Tortur sein. Auch die enorme Belastung für die Pflegekräfte kann der Laie nur erahnen. 9 Uhr Die Hand-OP läuft noch, Zeit für einen Gang über die Station. Es gibt acht Einzelzimmer, zwei Doppelzimmer und einen Interventionsraum mit Liegedusche. Das Schicksal des jungen Mannes wirkt noch nach. Auch bei Andrea Harff. „Man lernt natürlich damit umzugehen. Aber so etwas nimmt einen immer mit. Das berührt mich und die Kollegen auch emotional.“ Seit einem Jahr arbeitet sie auf der SV, vorher war die Lungenintensivstation ihr Arbeitsbereich. Ihre korrekte Berufsbezeichnung lautet: Fachgesundheits- und Krankenpflegerin für Intensivpflege und Anästhesie. Gebraucht hätte sie diesen „Kettenbrief“ nicht. „Ich bin mit Krankenschwester immer gut klar gekommen.“ Sie sei stolz auf den Beruf. „Ich liebe es, Krankenschwester zu sein“. Eine Liebe, die nicht ohne Beziehungsstress ist. Nicht erst seit gestern. „Der Druck ist enorm gestiegen. Wir können nicht mehr in Ruhe arbeiten.“ Was sie genau damit meint, erzählt sie später. Der OP hat sich gemeldet. Der Hand-Patient kann abgeholt werden. 9.10 Uhr Diesmal geht es zur Ausschleusung, „Eins, zwei, langsam rüber“, fünf Leute werden zum Umbetten gebraucht. Zurück im Zimmer dauert es fast eine Dreiviertelstunde, ehe der Patient versorgt ist, alle Infusionsleitungen und Kabel wieder richtig liegen. Einzig das Urin-Drainagesystem funktioniert nicht so wie es sollte. Da ist der Filter zwischen Schlauch und Beutel offenbar während der OP nass geworden. „Wir beobachten das. Manchmal reguliert sich das von selber, sonst wechsele ich das System.“ Daneben: Wieder schwere Verbrennungen 10.15 Uhr Im Zimmer gegenüber liegt ein weiterer Mann mit schweren Verbrennungen. Eine junge Schwester versorgt seine Wunden. „Merken Sie, wenn ich Sie am Bein kratze? Darf ich Sie hier anfassen?“ Leichtes Kopfnicken, leises Stöhnen. „Es ist leider noch nicht vorbei, ich muss Sie noch eincremen“. Endlich ist es geschafft. Der Rest wird angenehmer. Sie füttert ihn mit ein paar Löffeln Joghurt, führt ein Trinkgefäß zum Mund des Patienten, der seine Hände nicht benutzen kann. 10.30 Uhr Wir nehmen unser Gespräch wieder auf. Was verursacht den Druck? Was hat sich geändert? „Zum Beispiel der Patientendurchlauf. Er ist höher geworden, die Liegezeiten haben sich verkürzt, die Patienten sollen rasch von der Intensiv- auf die Normalstation oder in die Reha verlegt werden.“ Für die Pflege bedeute das immer weniger Zeit zum Luftholen. Und das in einem Beruf, in dem man keine Fehler machen darf. „Das ist extrem kräftezehrend und schafft bei uns Frustration. So ist unser Beruf nicht. Ich möchte ausreichend Zeit haben, um auf die individuellen Bedürfnisse meiner Patienten eingehen zu können“, sagt Harff. Oder, um ohne Hektik Dinge mit den Kollegen zu besprechen. „Wir sind Menschen und wir arbeiten gemeinsam für und mit Menschen, die sich in einer Ausnahmesituation befinden. Diese Menschen müssen doch im Zentrum unseres Handelns stehen und nicht die Erfüllung wirtschaftlicher Vorgaben der Krankenkassen.“ 11 Uhr Oberarzt Walter Perbix bittet darum, dass die operierte Hand höher gelagert wird. Er hat bei der Operation festgestellt, dass die Hand zu stark geschwollen war. Sie soll nicht auf dem Bett neben dem Körper liegen, sondern über Herzhöhe platziert werden. 11.30 Uhr Endlich Zeit für einen Kaffee und noch ein paar Fragen. Die Klagen, dass es an allen Ecken und Enden an Pflegekräften fehlt, sind ja nicht neu. Rund 70000 Pflegekräfte sollen nach Gewerkschaftsangaben an deutschen Krankenhäusern fehlen. Es scheint, dass sich kurz vor der Bundestagswahl besonders viele Menschen an das Thema erinnern. Was meint die Expertin? Was muss sich ändern? „Tatsächlich brauchen wir mehr Personal. Wir arbeiten an 365 Tagen im Drei-Schicht-System. Engpässe, wodurch auch immer verursacht, führen dazu, dass die verbliebenen Kolleginnen und Kollegen das auffangen müssen. Wenn das die Ausnahme ist, geschenkt.“ Ist es aber nicht, sondern immer häufiger die Regel. Das heißt: Dauerstress statt dringend nötiger Erholung. Harff wird noch deutlicher. „Wir gehen drauf dabei. Wir arbeiten nicht nur körperlich schwer, auf uns lastet eine enorme Verantwortung. Wir sind die ersten am Bett des Patienten, uns darf kein noch so kleines Detail entgehen. Wir haben einen Rund-um-Blick.“ 12 Uhr Würde die Pflegefachkraft den Beruf wieder ergreifen? „Auf jeden Fall. Resignieren gilt nicht. Außerdem ist der Beruf an sich abwechslungsreich und spannend. Kein Tag ist wie der andere. Wir erleben schöne und traurige Dinge, wir treffen auf interessante, schwierige und lustige Menschen.Das ist wie in einem guten Film, alles dabei. Eine bessere Bezahlung wäre gut und auch angemessen.“ Was stört sie besonders? „Der Pflegeberuf hat in Deutschland ein schlechtes Image. In vielen Köpfen geistert die Vorstellung herum: Das ist so ein Sozialjob, so ein Frauending. Allein in dem Satz »Pflegen? Anderer Leute Dreck wegmachen? Das könnte ich nicht« liegt ganz viel Verachtung. Schön blöd, wer es dennoch macht. Und dann noch für so wenig Geld und mit solchen Arbeitszeiten. Offenbar ist vielen nicht bewusst, dass wir hoch qualifiziertes Fachpersonal sind. Eine Intensivpflegekraft hat in der Regel eine fünfjährige Ausbildung hinter sich. Da sollte klar sein, dass unsere Aufgaben über das »Dreck wegmachen« weit hinausgehen. Hochachtung vor einer Leistung klingt anders. Wer hätte je zu einem Chirurgen gesagt: »Herztransplantation? Könnte ich nicht«. Das versteht sich ja von selbst.“ 12.30 Uhr Die blaue Phase endet. Kasack, Hose und Crocs bleiben auf der Station, der Gast checkt aus. Für das Team der Frühschicht geht es noch ein paar Stunden weiter. Andrea Harff muss zum Beispiel noch die liegengebliebene Dokumentation erledigen. Ihr Arbeitstag endet um 14.36 Uhr. Spezielle Behandlung für Verbrennungsopfer Andrea Harff hat zunächst eine Krankenpflegeschule besucht und mit dem Examen abgeschlossen. Die staatlich anerkannte Krankenschwester hat eine Zusatzausbildung als Praxisanleiterin sowie eine Fachweiterbildung in Intensiv- und Anästhesiepflege ebenfalls mit Staatsexamen abgeschlossen. Das Krankenhaus Merheim gehört ebenso wie das Kinderkrankenhaus Amsterdamer Straße und das Haus in Holweide zu den Kliniken der Stadt Köln. Im vergangenen Jahr arbeiteten in Merheim im Durchschnitt 1109 Beschäftigte in der Pflege, im Jahr davor waren es 30 Personen mehr. Die Schwerstbrandverletztenstation existiert seit 1983. Die Kliniken Köln sind in Köln und der Region der einzige Anbieter von SV-Stationen (in Merheim und im Kinderkrankenhaus). Aktuell arbeiten auf der Station in Merheim 32 Pflegekräfte, davon 27 in Vollzeit. Der Altersschnitt der 25 Frauen und sieben Männer liegt bei 43 Jahren. In Merheim wurden von Juli 2016 bis Juli 2017 insgesamt 36 Patienten mit schwersten Verbrennungen behandelt, dazu kamen 58 Verbrennungsopfer, die länger als eine Woche betreut wurden und 31, die kürzer als eine Woche behandelt wurden. (mos)...Lesen Sie den ganzen Artikel bei ksta