Russischer Journalist musste wegen ARTE-Doku fliehen - nun fürchtet er "Putins Rache"

Ein Blick auf seine neue Heimat: Der "Tracks East"-Beitrag "Putins Rache" entstand in der georgischen Hauptstadt Tiflis. Dorthin floh Journalist Nikita Adischev, nachdem in Russland berichtet wurde, er sei der Kopf einer Protestbewegung gegen den Ukraine-Krieg. (Bild: ARTE / Nikita Adischev)
Ein Blick auf seine neue Heimat: Der "Tracks East"-Beitrag "Putins Rache" entstand in der georgischen Hauptstadt Tiflis. Dorthin floh Journalist Nikita Adischev, nachdem in Russland berichtet wurde, er sei der Kopf einer Protestbewegung gegen den Ukraine-Krieg. (Bild: ARTE / Nikita Adischev)

Der russische Journalist Nikita Adischev wurde von Kreml-treuen Medien zum Kopf einer Protestbewegung erklärt. In einer ARTE-Doku wurde er daraufhin vom Mitarbeiter zum Protagonisten. Ein Gespräch über seine Flucht nach Tiflis, Journalismus in Russland und die Macht der Propaganda.

Ende Januar drehten Journalistinnen und Journalisten einen Beitrag für die Reihe "ARTE Tracks East" über russische Mütter, die gegen Putins Krieg in der Ukraine protestierten. Die Frauen forderten von den russischen Behörden die Rückkehr ihrer Männer von der Front. Hinter der Kamera stand Nikita Adischev, ein junger Mann mit Dreitagebart. Er bemerkte während des Drehs, dass dem Team jemand folgte. Sie entschieden sich, die geplanten Interviews in Nikitas Wohnung aufzunehmen. "Fünf Tage später lesen wir auf Kreml-freundlichen Kanälen, dass ich angeblich der Kopf dieser Bewegung sein soll."

Und so wurde der anonyme Reporter und Co-Autor hinter der Kamera in der neuen "ARTE Tracks East"-Doku "Putins Rache" (abrufbar in der ARTE-Mediathek und auf YouTube) selbst zum Protagonisten - und wagte sich vor die Kamera. Anfangs habe er die Propaganda-Berichte über ihn gar nicht ernst genommen, sagt er nun im Interview. Doch dann bekam der 27-jährige Kameramann einen Anruf, in dem ihn ein Journalist warnte, die Situation werde eskalieren. Schließlich klopfte die Polizei an seine Tür. "Ich entschied mich dazu, schnell meine Sachen zu packen und nach Tiflis zu fliegen." In der georgischen Hauptstadt sitzt Nikita nun vor seinem Laptop und berichtet im Video-Call mithilfe einer Übersetzerin von den bewegten letzten Monaten.

teleschau: Herr Adischev, vor zwei Monaten setzten Sie sich in ein Flugzeug und verließen Russland.

Nikita Adischev: Genau, seitdem lebe ich in Tiflis. Ich bin direkt nach Georgien geflohen, nachdem die Nachricht in Umlauf gewesen ist, ich sei der Organisator dieser Bewegung, und die Polizei an meine Tür geklopft hat.

teleschau: Fühlen Sie sich jetzt sicher?

Adischev: Das ist eine gute Frage. Viele meiner Journalisten-Kollegen sind inzwischen in Tiflis, und wir diskutieren viel über dieses Thema. Natürlich stellt sich, sobald man in Georgien ankommt, ein Gefühl von Sicherheit ein. Später entwickelt sich diese Gefühlslage jedoch, und nun würde ich sagen: Falls man dem Journalisten-Beruf oder irgendeiner Art des politischen Aktivismus nicht mehr nachgeht und einfach in Georgien bleibt, ist es ziemlich sicher.

teleschau: Und was, falls nicht?

Adischev: Solange man versucht, darauf aufmerksam zu machen, was in Russland passiert, ist man nirgendwo sicher und muss sich von diesem Sicherheitsgefühl verabschieden.

Russische Oppositionelle und westliche Politiker werfen dem Kreml vor, für den Tod des inhaftierten Alexej Nawalny  verantwortlich zu sein. Nikita ist nach eigenen Angaben kein Nawalnyst, doch die Situation sei nun noch beängstigender. (Bild: Johannes Simon / Getty Images)
Russische Oppositionelle und westliche Politiker werfen dem Kreml vor, für den Tod des inhaftierten Alexej Nawalny verantwortlich zu sein. Nikita ist nach eigenen Angaben kein Nawalnyst, doch die Situation sei nun noch beängstigender. (Bild: Johannes Simon / Getty Images)

"Zeigt man sein Gesicht, muss man mit den Konsequenzen umgehen"

teleschau: Wie sieht die Situation für Journalisten in Russland aus?

Adischev: Vor Ort wird die Situation immer schlimmer. Ich nenne das die "Spirale des Verschwindens". Sie dreht sich Runde für Runde für Runde. Als kritischer Journalist wirst du in Russland früher oder später als "Ausländischer Agent" eingestuft. Sobald man diesen Status innehat, hat man keine Möglichkeit mehr, Geld zu verdienen. Der Staat lässt einem keine andere Möglichkeit, als ihm gefällig zu arbeiten oder eben das Land zu verlassen.

teleschau: Gibt es noch kritische russische Medien?

Adischev: Ja. Es gibt noch kritische Medien, die für alle Russen zugänglich sind. Auch in Russland, aber die Mehrheit berichtet aus dem Exil. Zwischen beiden gibt es einen großen Unterschied. Die kritischen Medien innerhalb Russlands mussten einen Kompromiss eingehen: Sie können beispielsweise über russische Kriegsverbrechen in der Ukraine nicht berichten, wohl aber über soziale Themen. Kritische Kriegsberichterstattung übernehmen die freieren Exil-Medien, die mit einem ganz anderen Problem kämpfen: Sie haben kaum Zugang zu Protagonisten.

teleschau: Bei "ARTE Tracks East" finden Sie erstmals den Weg vor die Kamera.

Adischev: Wenn Sie mich fragen, ob ich in Russland mein Gesicht hätte zeigen können: Ja. Aber erstens war ich immer etwas schüchtern, und zweitens hatte ich Angst. Man kann als oppositioneller Journalist in Russland sein Gesicht zeigen, aber dann muss man mit den Konsequenzen umgehen können. Das heißt mindestens, viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, nicht nur von der Polizei, sondern auch von anderen Sicherheitsbehörden.

Auch die regimekritische russische Band BI-2 berichtet in "Putins Rache" vom Umgang des Kremls mit Kritikern. Die Band wurde in Thailand festgenommen und erzählt in "Tracks East" ihre Geschichte. (Bild: ARTE / Archiv BI-2)
Auch die regimekritische russische Band BI-2 berichtet in "Putins Rache" vom Umgang des Kremls mit Kritikern. Die Band wurde in Thailand festgenommen und erzählt in "Tracks East" ihre Geschichte. (Bild: ARTE / Archiv BI-2)

Der Moment, "in dem die Propaganda zu dir nach Hause kommt"

Auch ohne sein Gesicht zu zeigen, geriet Adischev ins Visier der Behörden - und packte kurzentschlossen seine Sachen. "Drei Stunden vor Abflug rief ich meinen Vater an, den ich ein halbes Jahr nicht mehr gesprochen hatte", erklärt der Journalist bei "Tracks East". Sein ganzer Ärger sei verflogen gewesen. "Mir war klar, dass das das letzte Gespräch sein konnte." Aktuell hat Nikita etwa wöchentlich Telefonkontakt zu seiner Familie. Auch zu seiner Großmutter, mit der er kurz nach seiner Flucht ein bemerkenswertes Telefonat führte.

teleschau: Nach dem medialen Wirbel um Ihre Person im Propaganda-TV haben Sie ihre Großmutter angerufen.

Adischev: Mit meiner Großmutter habe ich telefoniert, als ich bereits in Georgien war. Das Gespräch war sehr verwirrend, weil in diesem Moment zwei Realitäten aufeinandergeprallt sind. Lassen Sie mich das erklären: Es gibt zwei Arten von Russland. Einerseits ist da dein Russland, das Land, das du kennst und in dem dein Leben stattfindet. Und dann gibt es ein anderes Russland, über das wir in unseren Filmen berichten. Manchmal wirkt dieses Propaganda-Russland weit weg. Und dann gibt es diesen merkwürdigen Moment, in dem die Propaganda zu dir nach Hause kommt. Genau das ist in meinem Fall passiert.

teleschau: Wie hat Ihre Großmutter auf die Nachrichten reagiert?

Adischev: Ich hatte das Glück, dass die Propaganda meine Familie nicht beeinflusst hat. Ich glaube, meine Großmutter hat mir geglaubt. Alles andere hätte mich sicher verletzt. Ich musste ihr nicht alles erklären. Auch viele ihrer Freunde und Nachbarn haben ihr gesagt: "Das ist Bullshit."

Nach Nawalnys Tod wurde die Situation "noch beängstigender"

Für "Ausländische Agentenorganisationen" habe Adischev angeblich gearbeitet, heißt es im russischen Staatsfernsehen. "Das einzig wichtige ist, dass Nikita Adischev ein Oppositioneller, ein Nawalnyst ist", behauptete der Moderator der Sendung "Besogon TV". Er sei überhaupt kein Nawalnyst - kein Anhänger des kürzlich verstorbenen, populären Oppositionellen Alexej Nawalnys -, stellt Nikita klar. Auch sieht er sich als Journalist, nicht als Aktivist oder Politiker.

teleschau: Konsumieren Sie selbst noch die Propaganda-Medien? Was wird in den Nachrichten gezeigt?

Adischev: Ja, vor Kurzem erst. Es gibt aktuell drei große Themen in Russland: Die Flut in der Region Omsk, den Krieg in der Ukraine und die Terrorattacke in Moskau vor etwa einem Monat. In den ersten zehn Minuten der Nachrichtensendung haben sie gezeigt, wie Wladimir Putin die Eröffnung eines Newscenters besucht. Erst danach ging es um die Flut, aktuell das bedeutendste Thema im Land.

teleschau: Was hat sich nach dem Tod Alexej Nawalnys im Land verändert?

Adischev: Es wurde noch beängstigender, ich kann es nicht besser erklären. Welchen Einfluss der Tod Nawalnys hatte, kann ich gar nicht benennen. Doch viele Menschen stellen sich einmal mehr die Frage: Soll ich gehen oder bleiben? Ich habe in den Propaganda-Nachrichten nichts über Nawalnys Tod erfahren. Aber das sind für mich tote Medien, vielleicht habe ich es auch nicht gesehen.

teleschau: Nach so vielen Jahren Propaganda: Wie indoktriniert ist die russische Bevölkerung durch das Staatsfernsehen?

Adischev: Das ist eine Frage, die wohl nur Wissenschaftler beantworten können. Fast alle Russen schauen Propaganda-Fernsehen, aber nicht alle glauben, was dort erzählt wird. Ich habe keine Ahnung davon, wer diese vermeintliche Mehrheit ist, was sie denkt und was ich von ihr halten soll. Dazu gibt es in Russland keine Zahlen. Natürlich ist propagandistisches Staatsfernsehen aber ein sehr wirksames Instrument.

"Hier gibt es viele Graffitis mit den Worten: 'Russen, haut ab!"

teleschau: Viele junge Russen sind nach Tiflis geflohen. Wie reagieren die Einheimischen auf ihre neuen Nachbarn?

Adischev: Hier gibt es viele Graffitis mit den Worten: "Russen, haut ab!" Aber in zwei Monaten hier habe ich nicht einen Georgier getroffen, der mir das ins Gesicht sagen würde. Auch wenn ich glaube, manche von ihnen haben genauso gedacht. Der Stadt werden nationalistische Tendenzen nachgesagt, aber eigentlich bekommen wir Russen wenig davon mit.

teleschau: Spielen Sie mit dem Gedanken, irgendwann in ferner Zukunft nach Russland zurückzukehren?

Adischev: Ich denke überhaupt nicht darüber nach.

teleschau: Auch nicht mit der Aussicht darauf, dass Putin dieses Land nicht ewig reagieren wird?

Adischev: Ich glaube nicht, dass sich nach Putins Tod alles ändern wird. Darauf kann man sich nicht verlassen. Denn Russland ist nicht Putin, Russland ist das System. Ich weiß nicht, was sich ändern muss. Wird es eine Revolution geben, einen radikalen Wandel? Aber ich versuche, nicht darüber nachzudenken. Denn es ist schlecht für die mentale Gesundheit, sich über etwas Gedanken zu machen, das nicht existiert.

Nikitas nahe Zukunft ist ungewiss, möglicherweise zieht es ihn nach Europa. Aktuell versuche er aber nur, sein Leben auf die Reihe zu bekommen: einen guten Job oder einen Studienplatz zu finden. "Aber egal, was passiert: Ich will ich selbst sein, einen Film drehen und weiter das tun, was ich in Russland getan habe."