Kieg gegen die Ukraine: So ist die Lage
Moskau/Kiew (dpa) - Ein russisches Militärtransportflugzeug ist nach Angaben des Moskauer Verteidigungsministeriums am Mittwoch an der Grenze zur Ukraine abgestürzt. Alle 74 Insassen der Iljuschin Il-76 seien getötet worden, teilte das Ministerium mit. Es warf der Ukraine vor, die Maschine abgeschossen zu haben. Das Moskauer Militär verbreitete die Version, dass 65 ukrainische Kriegsgefangene an Bord gewesen seien. Sie hätten zu einem Gefangenenaustausch geflogen werden sollen. Außerdem seien sechs Mann Besatzung und drei Begleitpersonen in der Maschine gewesen.
Unabhängige Angaben gab es nicht, wen oder was das Flugzeug transportierte. Der Absturz wurde von Kiewer Seite bestätigt. Die Ukraine äußerte sich nicht zu möglichen Gefangenen in dem Flugzeug. Allerdings wurde nach einem Bericht der Ukrajinska Prawda in Kiew bestätigt, dass ein Gefangenenaustausch geplant gewesen sei. Das Nachrichtenportal berief sich dabei auf eigene Quellen. In sozialen Medien kursiert ein Video, das den Moment des Absturzes zeigen soll. Zu sehen ist eine Detonation in großer Entfernung, nach der eine riesige schwarzgraue Wolke in den Himmel aufsteigt.
Die Ukraine wehrt seit fast zwei Jahren eine großangelegte russische Invasion ab - an diesem Mittwoch ist der 700. Tag seit dem Einmarsch. Das Land ist auf ausländische Rüstungshilfe angewiesen. Bundeskanzler Olaf Scholz forderte die europäischen Länder auf, mehr zu tun. «Die Beiträge, die die europäischen Staaten bisher für 2024 vorgesehen haben, sind noch nicht groß genug», sagte Scholz der Wochenzeitung «Die Zeit». Der slowakische Ministerpräsident Robert Fico sagte nach ukrainischen Angaben bei einem Besuch in der Westukraine zu, geplante Milliardenhilfen der Europäischen Union für die Ukraine nicht zu blockieren.
Ein Abschuss mit westlicher Flugabwehr?
Die Iljuschin sei von der Ukraine mit westlichen Flugabwehrwaffen abgeschossen worden, erklärte das russische Verteidigungsministerium. Ebenso äußerte sich in Moskau der Chef des Verteidigungsausschusses im russischen Parlament, Andrej Kartapolow. Aus Kiew kamen dazu widersprüchliche Angaben. Aus einem ersten Bericht von Ukrajinska Prawda wurden Angaben zu einem Abschuss wieder herausgenommen. Es hieß, das ukrainische Militär habe in dem Flugzeug Nachschub von russischen Flugabwehrraketen S-300 vermutet.
Dann meldete die Agentur Interfax Ukrajina unter Berufung auf Militärquellen, es sei ein Flugzeug abgeschossen worden - allerdings nach dessen Start von Belgorod. Die Absturzstelle lag nach russischen Angaben bei dem Ort Jablonowo. Dieser liegt 50 Kilometer nordöstlich von Belgorod wie auch etwa 50 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt. Wo die Militärmaschine tatsächlich gestartet ist und wo sie landen sollte, wurde nicht mitgeteilt.
Laut Kartapolow wurde das Militärflugzeug mit drei Flugabwehrraketen entweder des US-Systems Patriot oder des deutschen Systems Iris-T vom Himmel geholt. Das russische Verteidigungsministerium sprach davon, dass zwei Raketenabschüsse geortet worden seien. Der Abschussort liege bei Lipzy im ostukrainischen Gebiet Charkiw, etwa 100 Kilometer von der Absturzstelle entfernt. Duma-Chef Wjatscheslaw Wolodin kündigte eine Eingabe an den Bundestag und den US-Kongress an. Man müssen den Parlamentariern vor Augen führen, wem sie mit ihren Waffenlieferungen helfen, sagte Wolodin.
Zumindest die Reichweite der Iris-T ist offiziell geringer als die Entfernung zur Absturzstelle. Experten bezweifeln zudem, dass die Ukraine die teuren Flugabwehrsysteme direkt an der Grenze aufgestellt hat, wo sie für Russland leicht zu bekämpfen sind. Bezweifelt wurde auch, dass die Gefangenen nur von drei Männern bewacht worden seien.
Wusste die Ukraine Bescheid?
Kartapolow erhob schwere Vorwürfe gegen die Ukraine. «Die ukrainische Führung wusste bestens über den geplanten Gefangenenaustausch Bescheid, wurde darüber informiert, wie die Gefangenen transportiert werden», sagte er. Beweise legte er nicht vor. Eine zweite Maschine Il-76 mit 80 Gefangenen an Bord habe nach dem Abschuss gewendet. Insgesamt habe es einen Austausch von jeweils 192 Gefangenen geben sollen, der nun gescheitert sei.
Der ukrainische Koordinierungsstab für die Angelegenheiten von Kriegsgefangenen teilte mit, man sammele und analysiere alle Informationen. Die Bürger sollten offizielle Mitteilungen abwarten. Das russische Oppositionsmedium «The Insider» zitierte eine ungenannte Quelle, Transportflüge zum Gefangenenaustausch würden üblicherweise angekündigt, um eine Feuerpause sicherzustellen. Dies könnte diesmal nicht passiert sein.
Kiew bestätigt geplatzten Gefangenenaustausch
Am frühen Abend bestätigte die Ukraine, dass für Mittwoch eigentlich ein Austausch von Kriegsgefangenen geplant gewesen war. «Heute hätte ein Gefangenenaustausch stattfinden sollen, der nicht stattfand», teilte der ukrainische Militärgeheimdienst HUR mit. Die Version aus Moskau, wonach die ukrainischen Gefangenen an Bord der abgestürzten russischen Maschine saßen und nun tot sind, bestätigte Kiew nicht. Stattdessen hieß es in der Mitteilung: «Derzeit haben wir keine verlässliche und umfassende Information darüber, wer genau und wie viele sich an Bord des Flugzeugs befanden.»
Die Ukraine habe ihrerseits alle Vereinbarungen eingehalten und die russischen Soldaten pünktlich zum Austauschort gebracht, teilte der Geheimdienst mit. Weiter hieß es: «Gemäß der Vereinbarung musste die russische Seite die Sicherheit unserer Verteidiger gewährleisten. Zugleich wurde die ukrainische Seite nicht über die Notwendigkeit informiert, die Sicherheit des Luftraums im Gebiet um die Stadt Belgorod in einem bestimmten Zeitraum zu gewährleisten, so wie das in der Vergangenheit mehrfach getan wurde.»
Dass die ukrainische Seite dieses Mal nicht über die genauen russischen Transportmittel in Kenntnis gesetzt worden sei, «könnte auf vorsätzliche Maßnahmen Russlands hinweisen, die darauf abzielen, das Leben und die Sicherheit von Gefangenen zu gefährden», schrieb die ukrainische Behörde. Staatliche russische Medien werteten die Mitteilung als indirekte Bestätigung dafür, dass die Ukrainer das Flugzeug mit ihren eigenen Soldaten an Bord abgeschossen hätten. Offiziell gibt es eine solche Bestätigung aus Kiew allerdings nicht.
Schwieriger Partner Fico in der Ukraine
Bei der Unterstützung der Ukraine will die Slowakei das auf mehrere Jahre angelegte EU-Hilfsprogramm über 50 Milliarden Euro unterstützen. Eine entsprechende Zusage habe der slowakische Ministerpräsident Fico bei einem Treffen in der westukrainischen Stadt Uschhorod gemacht, teilte der ukrainische Regierungschef Denys Schmyhal mit. Zudem werde die slowakische Regierung - wie bereits vorher versichert - ukrainische Waffenkäufe bei Privatfirmen nicht behindern.
Seit dem Regierungswechsel in Bratislava vor drei Monaten gelten die Beziehungen der Nachbarstaaten als angespannt. Zuletzt forderte der Linksnationalist Fico, dass ein schneller Ausweg aus dem Krieg gesucht werden solle, was auch im Interesse der Ukraine sei. Nur dies verhindere, dass es noch mehr Tote gebe und Russland aus dem weiteren Kriegsverlauf einen Vorteil ziehe. Die Ukraine will hingegen alle von Russland besetzten Gebiete befreien. Fico lehnt auch den von der Ukraine erhofften Beitritt zur Nato ab.
Scholz will mehr europäische Hilfen für die Ukraine
«Europa muss diskutieren, was jedes Land beitragen kann, damit wir die Unterstützung erheblich ausweiten können», sagte Scholz in dem «Zeit»-Interview. Die Ukraine müsse ihr Land verteidigen können. «Und das darf nicht an einem Mangel an Luftverteidigung, Artillerie, Panzern oder Munition scheitern.»
Auf die Frage, ob er enttäuscht sei über die anderen Europäer, sagte Scholz: «Na, ich bin eher irritiert, dass ich mich in Deutschland ständig der Kritik stellen muss, die Regierung tue zu wenig und sei zu zögerlich. Dabei tun wir mehr als alle anderen EU-Staaten, sehr viel mehr.» Deutschland mobilisiere momentan in Europa mehr als die Hälfte der bekannten Waffenhilfe für die Ukraine.
VIDEO: Absturz von Flugzeug mit 65 Ukrainern: Moskau beschuldigt Kiew