Scholz spricht vor EU-Parlament: Die Vision des Bundeskanzlers für die Europäische Union
Eine prosperierende, demokratische und vollständig im europäischen Projekt verankerte Ukraine sei die "deutlichste Absage" an die "imperiale, revisionistische und völkerrechtswidrige" Politik des russischen Präsidenten Wladimir Putin, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Rede zum Europatag.
"Die Ukrainerinnen und Ukrainer zahlen mit ihrem Leben für diesen Wahn ihres mächtigen Nachbarstaates", so Scholz am Dienstagmorgen vor dem Europäischen Parlament in Straßburg.
"Schließlich will niemand von uns zurück in die Zeit, als in Europa das Recht des Stärkeren galt. Als kleinere Länder sich größeren zu fügen hatten. Als Freiheit ein Privileg weniger war – und nicht ein Grundrecht aller."
In seiner breit angelegten Rede verteidigte Scholz die Europäische Union entschlossen als das wirksamste Gegenmittel gegen "nationale Großmachtfantasien" und "imperialistischen Größenwahn", die die Geschichte des Kontinents mit Blutbädern und Zerstörung überschattet hätten.
Dank der EU, so der Bundeskanzler, sei ein Krieg zwischen den Mitgliedsstaaten "unvorstellbar" geworden.
Die Worte des Kanzlers konnten auch als Vorwurf an die Ereignisse, die sich gleichzeitig in Moskau abspielten, gedeutet werden. Dort wohnte Putin einer Militärparade zum Tag des Sieges bei, prangerte erneut die westlichen Verbündeten an und wiederholte seine persönliche Interpretation der von ihm selbst initiierten Invasion der Ukraine.
"Ein echter Krieg ist gegen unser Vaterland entfesselt worden", verkündete Putin vor der auf dem Roten Platz versammelten Menge.
Doch Scholz schlug schnell zurück.
"Lassen wir uns nicht einschüchtern von solchem Machtgehabe! Bleiben wir standhaft in unserer Unterstützung der Ukraine – solange wie das nötig ist!", sagte er in Straßburg.
"Und deshalb ist die Botschaft dieses 9. Mais nicht das, was heute aus Moskau tönt. Sondern unsere Botschaft und die lautet: Die Vergangenheit wird nicht über die Zukunft triumphieren. Und die Zukunft – unsere Zukunft – ist die Europäische Union."
Der Bundeskanzler betonte, dass das Beitrittsversprechen, das die EU der Ukraine, Moldawien, Georgien und den westlichen Balkanstaaten gegeben hat, keine Frage des "Altruismus" sei, sondern vielmehr eine Frage der "Glaubwürdigkeit und wirtschaftliche[n] Vernunft", die den hohen Erwartungen gerecht werden müsse, die in sie gesetzt würden. Andernfalls werde die EU schließlich an "Einfluss und Strahlkraft" verlieren, so dass der Erweiterungsprozess sinnlos werde.
"Wir haben uns für ein großes Europa entschieden", sagte er: "Und es geht darum, den Frieden in Europa nach der Zeitenwende, die Russlands Angriffskrieg bedeutet, dauerhaft abzusichern".
Scholz warnte jedoch eindringlich davor, dass die Vergößerung der EU von heute knapp 450 Millionen Bürger:innen auf über 500 Millionen nach der Osterweiterung nur nach einer internen Reform der Arbeitsweise der EU möglich sein wird.
"Zur Ehrlichkeit gehört: Eine erweiterte EU muss eine reformierte EU sein. Wohlgemerkt: Die Erweiterung sollte uns nicht der einzige Anlass für Reformen sein, wohl aber ihr Zielpunkt.", sagte Scholz.
Die Welt von morgen
Reformen waren ein zentrales Thema in der Rede des Bundeskanzlers.
In Anlehnung an einige der Vorschläge, die er letztes Jahr in Prag gemacht hatte, forderte Scholz Änderungen in mehreren Schlüsselbereichen der EU-Politik, die seiner Meinung nach die Union besser auf die zahlreichen Herausforderungen der "multipolaren Welt" vorbereiten würden.
"Wir brauchen eine geopolitische EU, eine erweiterte und reformierte EU und nicht zuletzt eine zukunftsoffene EU", sagte er.
In der Handelspolitik drängte Scholz darauf, den Verhandlungen neuen Schwung zu verleihen und neue Freihandelsabkommen unter anderem mit dem Mercosur, Mexiko, Indien, Indonesien und Kenia abzuschließen - ein Unterfangen, das aufgrund unterschiedlicher politischer Ansichten und wirtschaftlicher Interessen der Mitgliedstaaten ins Stocken geraten ist.
In den Bereichen Außenpolitik und Steuern forderte der Bundeskanzler eine schrittweise Abkehr von der Einstimmigkeitspflicht, die von Einzelnen ausgenutzt werden kann, um kollektive Maßnahmen zu blockieren und Zugeständnisse zu erzwingen. Stattdessen sprach Scholz sich für eine Umstellung auf Mehrheitsabstimmungen aus. Ironischerweise ist für die Änderung der Abstimmungsregeln Einstimmigkeit erforderlich, was von denjenigen, die ihr Vetorecht behalten wollen, wohl verhindert werden wird.
"Den Skeptikern will ich sagen: Nicht die Einstimmigkeit, nicht die 100 Prozent Zustimmung zu allen Entscheidungen schafft größtmögliche demokratische Legitimität", so Scholz.
"Im Gegenteil! Es ist doch gerade das Werben und Ringen um Mehrheiten und Allianzen, das uns als Demokratinnen und Demokraten auszeichnet. Die Suche nach Kompromissen, die auch den Interessen der Minderheit gerecht werden. Genau das entspricht unserem Verständnis von liberaler Demokratie!"
Zum Thema Migration, einem der hartnäckigsten und polarisierendsten Themen auf der EU-Agenda, schlug Scholz vor, dass die EU ihren dringenden Bedarf an zusätzlichen Arbeitskräften anerkennen und sich mit anderen Ländern so auseinandersetzen sollte, dass "alle Seiten davon profitieren".
"Natürlich muss am Ende eine Lösung stehen, die dem Anspruch europäischer Solidarität gerecht wird. Aber wir dürfen doch nicht abwarten, bis diese Solidarität quasi wie der Heilige Geist über uns kommt". so der Bundeskanzler.
In Bezug auf China, ein Land, mit dem Deutschland tiefe und lukrative Wirtschaftsbeziehungen unterhält, räumte Scholz ein, dass Peking eher zu einem Rivalen und Konkurrenten als zu einem Partner geworden sei, lehnte aber einen klaren Bruch in den Beziehungen ab.
"Mit Ursula von der Leyen bin ich mir einig: Kein De-coupling, aber ein kluges De-risking lautet die Devise!", sagte Scholz und bezog sich dabei auf eine kürzlich gehaltene Rede der Präsidentin der Europäischen Kommission.
Scholz zog die Lehren aus den aufeinanderfolgenden Krisen, mit denen die EU in den letzten Jahren konfrontiert war, und ermutigte die Union, geeint, offen und kooperativ zu bleiben, ohne der Nostalgie nach vergangenem Ruhm nachzugeben oder den Prophezeiungen eines unumkehrbaren Niedergangs Europas zu erliegen.
"Nicht weniger, sondern mehr Offenheit, mehr Kooperation sind das Gebot unserer Zeit. Um Europa einen guten Platz zu sichern in der Welt von morgen". sagte der Bundeskanzler.
"Einen Platz nicht über oder unter anderen Ländern und Regionen. Sondern auf Augenhöhe mit anderen, an ihrer Seite."