Werbung

Schweizer Rentner gegen Regierung: Oberstes EU-Gericht verhandelt historischen Fall

Eine Gruppe von Schweizer Frauen verklagt ihre Regierung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) wegen des Klimawandels. Sie sind im Schnitt 73 Jahre alt und sagen, die Klimapolitik des Landes gefährde ihre Gesundheit und beschneide ihre Menschenrechte.

Der Verein KlimaSeniorinnen zählt rund 2.000 weibliche Mitglieder im Rentenalter, die der Schweizer Regierung vorhalten, das Recht auf Leben und Gesundheit älterer Frauen zu verletzen.

Nach einem sechsjährigen Kampf und einer Niederlage vor dem Bundesgericht, der höchsten juristischen Instanz der Schweiz, haben sie den Fall an vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg gebracht.

Der Schweizer Staat bestreitet nicht, dass sich der Klimawandel auf die Gesundheit auswirken kann, aber er  argumentiert, dass die Emissionen nicht speziell mit der Gesundheit älterer Frauen in Verbindung gebracht werden können. Darüber hinaus seien Klimamaßnahmen eine Aufgabe, über die die Politiker:innen zu  entscheiden hätten.

Der Rechtsstreit wurde nun an die Richter der Großen Kammer gegeben, einem Gericht, das für die wichtigsten Grundsatzfragen zuständig ist.

Das Urteil könnte erhebliche Auswirkungen nicht nur auf die 46 Mitgliedstaaten des Europäischen Rates, sondern auf die ganze Welt haben.

Warum klagen die KlimaSeniorinnen gegen die Schweizer Regierung?

Am 29. März werden Mitglieder der KlimaSeniorinnen mit dem Zug von der Schweiz nach Straßburg im Nordosten Frankreichs fahren. Dort wird ihr Anwaltsteam mit Unterstützung von Greenpeace Schweiz bei einer öffentlichen Anhörung ihren Fall vortragen.

Die Gruppe prangert an, dass die Schweiz nicht genug für den Klimaschutz tue und dass die Klimapolitik des Landes "eindeutig unzureichend" für das Ziel des Pariser Abkommens sei, die globale Erwärmung auf 1,5℃ zu begrenzen.

Flurin Bertschinger / Greenpeace
Anne Mahrer, ehemalige Nationalrätin der Grünen Partei, Co-Präsidentin der KlimaSeniorinnen. - Flurin Bertschinger / Greenpeace

Die KlimaSeniorinnen sagen, dass die globale Erwärmung bis zum Jahr 2100 um bis zu 3℃ ansteigen würde, wenn alle Länder so reagieren würden wie die Schweiz.

Ihr Dossier mit gesammelten wissenschaftlichen Beweisen zur Untermauerung ihres Anliegens veranschaulicht die Auswirkungen des Klimawandels auf die Gesundheit der Menschen. Dort steht auch, dass ältere Menschen und Frauen besonders gefährdet sind.

Die Seniorinnen wollen vor Gericht argumentieren, dass die Schweiz gegen die Artikel 2 und 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstoßen habe. Diese beiden Artikel schützen das Recht auf Leben und das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens.

"Das politische System ist zu langsam"

Elisabeth Stern ist eines der Mitglieder der KlimaSeniorinnen. Sie engagierte sich zu ersten Mal in den 1970er Jahren, als sie den Zusammenhang zwischen Welthunger und Überkonsum im globalen Norden erkannte.

Seither interessierte sie sich für die Friedensbewegung und schließlich für die Klimabewegung, nachdem sie in den 90er Jahren in Simbabwe persönlich einen "Weckruf" zu den Auswirkungen der Klimaveränderungen auf unserem Planeten erhalten hatte. Danach hatte sie einige Jahre für ein Unternehmen im Bereich der Umweltfinanzierung gearbeitet bevor sie in den Ruhestand ging.

"Als ich in den Ruhestand ging, war mir klar, dass ich Aktivistin werden musste. Ich konnte einfach nichts anderes sein als das", sagt Elisabeth Stern gegenüber Euronews Green.

Joël Hunn / Greenpeace
Elisabeth Stern ist Mitglied der KlimaSeniorinnen. - Joël Hunn / Greenpeace

Also schloss sie sich den KlimaSeniorinnen an, Frauen in ihrem Alter, die für dieselbe Sache kämpfen. Sie hatten die gleichen entscheidenden politischen und historischen Ereignisse erlebt wie sie, und viele von ihnen hatten ihr ganzes Leben dem Aktivismus gewidmet.

Viele von ihnen haben gebrechliche Körper, aber ihr Geist ist so klar.

"Diese Frauen waren einfach eine große Inspiration", erklärt sie. "Wissen Sie, viele von ihnen haben gebrechliche Körper, aber ihr Verstand ist so klar. Außerdem waren sie ihr ganzes Leben lang Aktivistinnen, angefangen bei der Anti-Atomkraft-Bewegung und der Frauenbewegung."

Und der Beitritt zur dieser Gruppe vieler Expertinnen brachte neue Erkenntnisse für die 74-Jährige. Sie war in einem sehr demokratischen Land aufgewachsen, in dem es unter anderem durch Volksentscheide möglich ist, Einfluss zu nehmen und Dinge in Frage zu stellen. Aber Elisabeth Stern war überrascht zu erfahren, dass man seine Regierung vor Gericht bringen kann.

"Es ist klar, dass das politische System immer noch viel zu langsam ist für das, was erforderlich ist", so Stern.

Was wird das Urteil in diesem Fall für die KlimaSeniorinnen bedeuten?

Elisabeth Stern und die anderen Seniorinnen hoffen, dass in Straßburg ein Präzedenzfall für die Frage geschaffen werden kann, ob Klimaschutz ein Menschenrecht ist.

Es ist das erste Mal, dass der EGMR eine öffentliche Anhörung durchführt, um festzustellen, inwieweit ein Land wie die Schweiz seine Emissionen reduzieren muss, um die Menschenrechte seiner Bevölkerung zu schützen. Es ist auch der erste Klimafall, der vor die Große Kammer des Gerichtshofs kommt.

KlimaSeniorinnen glaubt, dass das Ergebnis enorme Auswirkungen haben könnte."Es ist das erste Mal überhaupt, dass ein Gericht darüber entscheiden muss, ob Klimaschutz ein Menschenrecht ist", sagt Elisabeth.

Greenpeace / Joël Hunn
Die Klimamaßnahme des Rechnungshofs ist eine der ersten ihrer Art und könnte ein Präzedenzfall für ganz Europa werden. - Greenpeace / Joël Hunn

Sie hofft, dass sie die Klage "ideologiefrei" prüfen können, um zu sehen, ob die Artikel 2 und 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention verletzt wurden.

Wenn das Gericht entscheidet, dass Klimaschutz ein Menschenrechtsthema ist, hat das auch für die anderen 46 Staaten des Europäischen Rates eine Bedeutung. Aus jedem dieser Länder könnten ebenfalls Beschwerden eingereicht werden, die sich auf dieses Urteil berufen und sagen, dass sie das Gleiche wollen.

Sie würden den unbefriedigenden Klimapfad, auf dem sich die Schweiz und natürlich auch viele andere Länder befinden, quasi legitimieren.

"Das ist es, worauf ich jetzt hoffe. Dass sie das deutlich machen, dass sie tatsächlich eine klare Entscheidung treffen, vielleicht sogar eine Entscheidung, die einen Präzedenzfall für andere Staaten darstellt", so Elisabeth Stern.

Aber wenn sie KlimaSeniorinnen abweisen, so Stern weiter, wäre das nur schwer zu verkraften. "Sie würden den unbefriedigenden Klimapfad, auf dem sich die Schweiz und natürlich auch viele andere Länder befinden, quasi legitimieren. Das wäre wirklich schlimm."

Ein entscheidender historischer Moment für die Klimapolitik

Wie auch immer der Fall ausgehen wird, Elisabeth Stern glaubt, dass sie in gewisser Weise bereits gewonnen haben.

Als sie vor sechs Jahren anfingen, wussten nur sehr wenige Menschen von der Klage. Jetzt werden die KlimaSeniorinnen täglich mehrfach um Interviews gebeten, und es werden mehrere hundert Menschen in Straßburg erwartet, um sie zu unterstützen.

Fast gleichzeitig wird der EGMR auch den Fall von Damien Carême, dem ehemaligen Bürgermeister von Grande-Synthe in Frankreich, anhören. Ähnlich wie die KlimaSeniorinnen argumentiert er, dass die französische Regierung nicht alles in ihrer Macht Stehende getan hat, um die Emissionen zu senken, und daher seine Menschenrechte verletzt hat.

Die Zahl der Fälle nimmt zu, und Länder wie die Niederlande und Belgien haben bereits wichtige Entscheidungen getroffen. Die Entscheidung darüber, ob Maßnahmen gegen den Klimawandel eine Frage der Menschenrechte sind, könnte ein historischer Moment sein.