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Selenskyjs wichtigste Reise

Hiroshima (dpa) - Sie begrüßen sich fast schon wie alte Freunde. «Gut, dich zu sehen. Wir treffen uns ja recht häufig», sagt Olaf Scholz auf Englisch, als Wolodymyr Selenskyj den Raum betritt, den das japanische G7-Gipfelprotokoll dem Bundeskanzler im 22. Stock des Grand Prince Hotels für bilaterale Gespräche zur Verfügung gestellt hat. «Es ist immer eine Freude», antwortet Selenskyj. Die beiden haben sich erst vor einer Woche getroffen, im Berliner Kanzleramt. Seitdem sind sie der Olaf und der Wolodymyr füreinander

Der ukrainische Präsident hat vor Scholz in den Nachbarzimmern schon mit ein paar anderen Staats- und Regierungschefs gesprochen. Rishi Sunak aus Großbritannien zum Beispiel, Narendra Modi aus Indien, Giorgia Meloni aus Italien oder Emmanuel Macron aus Frankreich. Alles so im 15- bis 20-Minuten-Takt. Jetzt ist der Bundeskanzler dran. «It's a good pleasure» - «es ist eine gute Freude», sagt er noch schnell vor laufenden Kameras zu Selenskyj. Dann geht's vertraulich weiter.

Viele sehr mächtige Männer und Frauen und ein Star

Im japanischen Hiroshima haben sich eine ganze Reihe der mächtigsten Männer und Frauen der Welt versammelt, die - G7 und Gäste zusammengenommen - für mehr als drei Milliarden Menschen und einen großen Teil der weltweiten Wirtschaftskraft stehen. Der Star ist aber einer, der eigentlich gar nicht so richtig dazugehört. Der Mann, der sich mit seinen Streitkräften seit 15 Monaten gegen die russischen Angreifer zur Wehr setzt.

Am Samstagnachmittag gegen 15.30 Uhr landet Selenskyj mit einer französischen Regierungsmaschine in Hiroshima, die Macron organisiert hat, um ihn vom Gipfel der Arabischen Liga in der 9000 Kilometer entfernten saudi-arabischen Hafenstadt Dschidda abzuholen. Hiroshima ist ein Symbol für Kriegszerstörung, wie es weltweit kein zweites gibt. Beim ersten Atomwaffeneinsatz der Geschichte wurden 80 Prozent der Stadt dem Erdboden gleich gemacht, mehr als 330.000 Menschen starben sofort oder später an ihren Verbrennungen und Verstrahlungen.

Ruine eines Kuppelbaus als Mahnung an Putin

Die Ruine eines Kuppelbaus erinnert noch heute an das Inferno und mahnt diejenigen, die heute mit einem Atomwaffeneinsatz drohen - wie der russische Präsident Wladimir Putin. Es ist Selenskyjs Land, gegen das sich dessen Drohungen richten.

Der ukrainische Präsident hat einige Reisen in den vergangenen sechs Monaten unternommen. Diese hier ist nicht nur die weiteste und symbolträchtigste, sondern auch die bedeutendste. In der G7 der führenden demokratischen Wirtschaftsmächte sind die wichtigsten Verbündeten Selenskyjs vereint: Die USA, die mit Abstand die meisten Waffen liefern. Deutschland, Großbritannien und Frankreich, die wirtschaftlich und militärisch stärksten Länder Europas. Die Spitzen der Europäischen Union, der die Ukraine so bald wie möglich beitreten will.

Nicht nur Biden und Scholz, sondern auch Modi und Lula

Es sind aber auch einige beim G7-Gipfel dabei, die dem Aggressor Russland trotz Angriffskriegs immer noch einigermaßen nahe stehen. Der indische Premierminister Modi zum Beispiel, dessen Land sich einer Verurteilung der Invasion in der UN-Vollversammlung verweigert. Oder der brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, der für die Gründung eines «Friedensclubs» unter Einbeziehung Chinas geworben hat. Selenskyj lässt inzwischen erkennen, dass er gegen solche Initiativen grundsätzlich nichts hat - wenn der ukrainische Friedensplan Grundlage dafür ist.

Der sieht einen kompletten Truppenabzug Russlands aus den besetzten Gebieten vor. Da Russland dazu noch nicht bereit ist, braucht Selenskyj von der Gruppe der Sieben vor allem eins: Waffen. Um noch mehr davon zu bekommen, ist Selenskyj vor der geplanten Großoffensive zur Rückeroberung besetzter Gebiete vor einer Woche schon durch Europa getourt, erstmals auch nach Berlin. Scholz hat ihm als Gastgeschenk ein Waffenpaket im Wert von 2,7 Milliarden Euro geschnürt. Da waren weitere Kampf- und Schützenpanzer dabei, Flugabwehrsysteme und Munition. Aber kein Waffensystem neuer Qualität.

Nach den Kampfpanzern nun die Kampfjets

Genau darum geht es nun in Hiroshima. Selenskyj will seit langem Kampfjets. Großbritannien, Frankreich und andere europäische Staaten sind bereit, eine Lieferung zumindest vorzubereiten - über die Ausbildung von Piloten. Am Tag vor Selenskyjs Ankunft gibt US-Präsident Joe Biden grünes Licht dafür. Das ist nötig, weil die Ukraine am liebsten die amerikanischen F-16-Flieger haben möchte, die von den Verbündeten nur mit US-Erlaubnis weitergegeben werden dürfen.

Damit wird eine weitere Waffenwende in diesem Krieg in die Wege geleitet, so ähnlich wie bei den Kampfpanzern. Da hatte sich Scholz nach langem Zögern an die Spitze der Bewegung gesetzt. Wo steht er nun bei den Jets? Bildlich steht er am Rande der Startbahn und sieht zu, wie die F-16 langsam los rollt. Ob sie tatsächlich irgendwann Richtung Ukraine startet ist offen. Und ob Deutschland das Projekt unterstützt, ist es auch.

Selenskyj hat sich das bei seinem Berlin-Besuch gewünscht. Scholz kann eine gewisse Skepsis nicht verbergen. «Das, was mit der Ausbildung von Piloten verbunden ist, ist ja ein längerfristiges Projekt», sagt er in Hiroshima. Die USA hätten noch gar nicht endgültig entschieden, «was am Ende der Ausbildung dann stehen wird».

Dinner ohne Selenskyj: Kaviar und Krieg passen nicht zusammen

Selenskyj ist das egal. Für ihn ist wichtig, dass das Kampfjet-Projekt erst einmal in der Spur ist. «Ich bin sehr glücklich», sagt er. Die Entscheidung werde den Menschen in der Ukraine helfen, ihre Häuser und Familien zu schützen - auch wenn noch einiges vorzubereiten sei. «Es ist ein großartiger Beschluss.»

Das Dinner der Staats- und Regierungschefs am Samstagabend lässt der wie immer in Militärkluft gekleidete Selenskyj aus. Krabben Royal, Kaviar aus der japanischen Region Miyazaki und marinierter roher Hummer passen nicht zu einem Präsidenten, dessen Land sich im Krieg befindet. Erst bei der Arbeitssitzung am Sonntagmorgen sitzt er mit allen Staats- und Regierungschefs der G7 an einem Tisch. «Jetzt nimmt unsere Stärke zu», schreibt er zu den Bildern auf Twitter. «Jeder, der eine Aggression gegen ein demokratisches Land erwägt, sieht, wie die Reaktion ausfallen wird.»