Sepp Blatter in Netflix-Doku: "Ich bat die FIFA nie, mir mehr zu geben. Sie taten es einfach."

Die zwei Gesichter des Sepp Blatter: Der vierteiligen Netflix-Doku "FIFA Uncovered"  über die Geschichte des Fußballweltverbandes und seiner Skandale stand der mittlerweile 86-Jährige für ein ausführliches Interview zur Verfügung. Er sieht keine Schuld bei sich - auch wenn die Serie diesbezüglich ein etwas anderes Bild zeichnet. (Bild: FIFA/Courtesy of Netflix)

Berichte über Katar und Korruption im Weltfußball gibt es derzeit viele. Die herausragende Netflix-Doku "FIFA Uncovered" erklärt, wie das "System FIFA" entstand und vom einst rechten Weg abkam. Ab Mittwoch, 9. November, stehen die vier Folgen eines doppelten Oscar-Preisträgers zum Streamen bereit.

"Der Zuschlag für Katar war damals nur schwer zu erklären", sagt Ex-FIFA Medienchef Guido Tognoni in der vierteiligen Netflix Doku "FIFA Uncovered". Mit "damals" meint der heutige FIFA-Whistleblower das Jahr 2010, als der Fußballweltverband längst schon unter Korruptionsverdacht stand. Und ausgerechnet da stimmte das Exekutivkomitee für den in Sachen Menschenrechte äußerst umstrittenen Zwergstaat Katar als Austragungsort, in dem es im Sommer etwa 40 bis 50 Grad heiß wird. Ein Irrsinn? Nein, eigentlich nur logisch - wenn man nach Ansicht dieser Doku das "System FIFA" kennengelernt hat. "Verurteilt man Katar für die Ausrichtung der WM", analysiert Tognani, "muss man auch die FIFA verurteilen, denn es ist ihr System. Das der FIFA."

Um zu verstehen, wie die FIFA wurde, was sie heute ist, kann man diese viermal 50-60 Doku-Minuten bei Netflix nur wärmstens empfehlen. Die Produktion des zweifachen Oscar-Gewinners John Battsek ("Searching For Sugar Man", "One Day In September") schaut sich wie ein Krimi und leistet vor allem in seinen ersten beiden Folgen etwas sehr Besonderes, das im Kritikwust zur FIFA sonst meist untergeht. Anschaulich wird erklärt, wie der Fußballweltverband überhaupt zu einem korrupten System wurde. Denn bis tief in die 70-er war man eher so eine Art UN des Fußballs: arm, aber der Gerechtigkeit und dem Guten verpflichtet.

Sepp Blatter (links) und FIFA-Präsident João Havelange, der das Amt von 1974 bis 1998 innehatte. In seiner Ära beginnt die Korruptionsgeschichte des Weltfußballverbandes. Zuvor war man eher so etwas wie die UN, heißt es im Film: arm, aber mit den besten Absichten unterwegs.    (Bild: Getty Images/Courtesy of Netflix)
Sepp Blatter (links) und FIFA-Präsident João Havelange, der das Amt von 1974 bis 1998 innehatte. In seiner Ära beginnt die Korruptionsgeschichte des Weltfußballverbandes. Zuvor war man eher so etwas wie die UN, heißt es im Film: arm, aber mit den besten Absichten unterwegs. (Bild: Getty Images/Courtesy of Netflix)

Berlin 1936: Hitlers Olympische Spiele als Blaupause

Der Sündenfall begann 1974 mit der Wahl des brasilianischen Sportfunktionärs Joao Havelange zum FIFA-Präsidenten. Der Sohn eines aus Belgien ausgewanderten Waffenhändlers war als Sportler ebenso vielseitig wie später als Strippenzieher und Geschäftsmann: Bei den Olympischen Spielen in Berlin 1936 war Havelange als Schwimmer dabei, bei den Spielen von Helsinki 1952 trat er als Wasserballer an. Ab 1974 wurde unter ihm die FIFA kommerzialisiert. Havelanges Mann für die Vermarktung hieß Sepp Blatter, der mit Coca Cola einen ersten großen Deal klarmachte. Bald folgten Adidas und Adi Dasslers Sohn Horst Dassler, der über seine Vermarktungsagentur International Sport and Leisure (ISL), die eng mit Havelanges FIFA "zusammenarbeitete", als Erfinder der modernen Sportkorruption gilt.

Der zweite große Sündenfall der FIFA folgte, als man die WM 1978 in Argentinien stattfinden ließ, wo eines der brutalsten diktatorischen Regimes der Welt herrschte und den Sport für seine Zwecke benutze. "Heute ist Sportswashing ein großes Thema", erzählt David Conn, Journalist beim britischen "Guardian" und Autor des Buches "The Fall of the House of Fifa" in der Doku. "Und wenn man auf die WM 1978 zurückblickt, auf die Olympischen Spiele 1936 und das jetzt sieht, wird es noch beunruhigender. Der Sport lässt sich im Grunde genommen von Regimen mit Menschenrechtsproblemen kaufen, statt mit seiner Macht dagegen Stellung zu beziehen."

Zwei Hauptprotagonisten des wohl größten Fußballskandals aller Zeiten: Chuck Blazer, links, und Jack Warner in "FIFA Uncovered". (Bild:  AP / Courtesy of Netflix)
Zwei Hauptprotagonisten des wohl größten Fußballskandals aller Zeiten: Chuck Blazer, links, und Jack Warner in "FIFA Uncovered". (Bild: AP / Courtesy of Netflix)

Das "Problem": Jede Nation im Fußball-Weltverband hat eine Stimme

Argentinien hat dafür das Drehbuch für den Sündenfall geschrieben, Berlin 1936 war damals schon Vorbild. Dass weitere WM-Vergaben an Unrechtsstaaten wie Russland (2018) und Katar folgten (2022), war im System FIFA nur logisch, denn vergeben wurde wohl ab Havelanges Übernahme 1974 stets an jene, die am besten zahlten.

Aufhänger der Doku sind zu Beginn die Verhaftungen von FIFA-Funktionären kurz vor der Wahl des FIFA-Präsidenten 2015 in Zürich. Damals liefen Fernsehbilder wie aus einem Mafia-Film auch in den deutschen Nachrichten inklusive "ARD-Schwerpunkt". Anzugträger wurden von Bettlaken geschützt aus Hintertüren des Nobelhotels Baur au Lac abgeführt. Loretta Lynch, damals Justizministerin der USA, gab kurz danach in einer Pressekonferenz Auskunft: 14 hochrangige FIFA-Mitglieder ließen sich über lange Zeit bestechen. Bezüglich der Austragungsorte der WM, bezüglich der Übertragungsrechte und der Führung des Weltverbandes.

Doch warum hat der europäische Fußball, zu dessen Demokratieverständnis das obskure Wirken des Weltverbandes doch ziemlich konträr steht, nicht mehr Einfluss auf die Entscheidungen der FIFA? Schließlich sind in Europa fast alle großen Spieler und Clubs zu Hause. Auch dies wird in der Doku herausragend gut erklärt: Im System FIFA, übrigens rein rechtlich eine Art Verein, der sich nur den eigenen Regeln stellen muss, hat jedes Land eine Stimme. Ein kleiner Inselstaat aus der Karibik ist also ebenso mächtig wie Deutschland oder Brasilien.

WM-Vergabe, Vermarktungsrechte, Fernsehrechte: Irgendwann in den 70-ern und 80-ern merkte die FIFA, dass sie eine Lizenz zum Gelddrucken besaß: Die kommerzielle "Auswertung" des beliebtesten Sports der Welt lag in ihrer steuernden Hand. (Bild: FIFA/Courtesy of Netflix)
WM-Vergabe, Vermarktungsrechte, Fernsehrechte: Irgendwann in den 70-ern und 80-ern merkte die FIFA, dass sie eine Lizenz zum Gelddrucken besaß: Die kommerzielle "Auswertung" des beliebtesten Sports der Welt lag in ihrer steuernden Hand. (Bild: FIFA/Courtesy of Netflix)

Sepp Blatter: "Ich habe nie Geld genommen oder nach Geld gefragt"

Auch diese Einstimmer-Regel öffnete "seltsamen" FIFA-Entscheidungen unter Havelange (ab 1974), Blatter (ab 1998) und nun Gianni Infantino (seit 2016) Tür und Tor: Südamerika mit den großen Fußballnationen Brasilien und Argentinien hat lediglich zehn Stimmen, aber Nord- und Mittelamerika mit seinen vielen Karibikstaaten haben etwa 30. Kein Wunder, dass rund um Funktionäre aus diesem Teil der Erde, mittlerweile bekannten Skandal-Protagonisten wie Jack Warner oder Chuck Blazer, sich ein Großteil dieser "Mafia-Saga" auf Netflix dreht.

Auch die Vergabe der WM nach Katar wird vor allem in Folge drei sehr gut analysiert und hergeleitet, was "FIFA Uncovered" - auch wegen der klaren Erzählweise und der hochwertigen Bilder - zum derzeit vielleicht besten kritischen Informationsangebot rund um die umstrittene WM macht. Auch Sepp Blatter hat sich für diese Dokumentation ausführlichen Interviews. Einer Schuld ist er sich jedoch nicht bewusst. Stattdessen leuchten dem 86-jährigen Immer noch die Augen, wenn er von seinem Wirken bei der FIFA erzählt: "Ich habe nie Geld genommen oder nach Geld gefragt", sagt er, der niemals von einem Gericht verurteilt wurde, in der Doku-Serie. Und: "Ich bat die FIFA nie, mir mehr zu geben. Sie taten es einfach."

Von den umstrittenen Machenschaften der FIFA dürften mittlerweile auch jene mitbekommen haben, die sich wenig mit Fußball beschäftigen: öffentliche Proteste gegen die Vergabe der WM nach Katar und die Ausbeutung der Arbeiter im Wüstenstaat. (Bild: ScreenOcean/Reuters/Courtesy of)
Von den umstrittenen Machenschaften der FIFA dürften mittlerweile auch jene mitbekommen haben, die sich wenig mit Fußball beschäftigen: öffentliche Proteste gegen die Vergabe der WM nach Katar und die Ausbeutung der Arbeiter im Wüstenstaat. (Bild: ScreenOcean/Reuters/Courtesy of)