Skandal in Österreich: Heimkinder sollen für Experimente missbraucht worden sein

Österreichs ehemalige Pflegekinder klagen an: In den Heimen der Alpenrepublik wurden Minderjährige offenbar über Jahre missbraucht und misshandelt. Die Vorwürfe sind ungeheuerlich: Einigen Heimkindern sollen absichtlich Malaria-Erreger gespritzt worden sein.  Aufmüpfige Minderjährige wurden Berichten zufolge mit Röntgenstrahlen ruhiggestellt und sexuell aktive Jugendliche mit Medikamenten aus der Tiermedizin traktiert. Der Missbrauch soll teilweise bis in die 70er-Jahre angedauert haben.

Der Österreicher Wilhelm Jäger, heute 63, brachte die Sache ins Rollen. Vor einer Woche ging er mit dem Vorwurf an die Öffentlichkeit, man habe ihn im Alter von 16 Jahren in der Wiener Universitätsklinik für Psychiatrie gezielt mit Malaria angesteckt. „Da wurde einem anderen Blut abgenommen und mir in den Muskel eingespritzt. Ich wurde also absichtlich mit Malaria infiziert und hatte über zwei Wochen bis zu 42 Grad Fieber", sagte er dem österreichischen Radiosender „Ö1“. Die Ärztin habe gesagt, sie mache Versuche, um eine Malaria-Kur durchzuführen. Er habe sich nicht gewehrt, da man ihm gedroht habe, ihn sonst auf die geschlossene Abteilung zu verlegen. Jäger lebte in den 60er-Jahren in diversen Wiener Kinderheimen. Nach mehreren Ausreißversuchen brachte man ihn 1964 in die Uni-Klinik.

Malaria-Therapien seien seit den 20er-Jahren vor allem zur Behandlung von Syphilis-Patienten zum Einsatz gekommen, sagt der Leiter der Wiener Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Siegfried Kasper, dem Radiosender. Dies war eine selbst damals bereits veraltete Therapiemethode, die jedoch offenbar noch Anwendung fand. Kasper hält es für möglich, dass Jäger damals als „Erreger-Träger“ missbraucht wurde, also gezielt mit Malaria infiziert wurde, damit stets Malaria-Erreger für Syphilis-Therapien vorhanden waren. Seit Jäger seinen Fall öffentlich gemacht hat, haben sich weitere angeblich Betroffene zu Wort gemeldet.

Möglicherweise handelt es sich insgesamt um bis zu 100 Opfer, wie „Deutschlandfunk“ berichtet. Die Universitätsklinik will nun prüfen, ob die Vorwürfe stimmen. Nachweisen lässt es sich freilich nicht mehr: Die Malaria-Erreger verschwinden nach etwa einem halben Jahr aus dem Blut. Zudem gelang es Jäger auch in Zusammenarbeit mit „Ö1“ nicht, an seine alte Krankenakte zu kommen, da sie nicht mehr auffindbar war.

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Der aktuelle Leiter der Wiener Uni-Psychiatrie, Johannes Wancata, sagte gegenüber der Tageszeitung „Der Standard“, er könne sich die Vorgehensweise seiner Vorgänger nicht erklären. Er bedaure und verurteile sie dafür. Wiens Bürgermeister Michael Häupl will sich nun um eine Wiedergutmachung bei Betroffenen bemühen, wie er der österreichischen Tageszeitung „Die Presse“ mitteilte. Die Stadt habe die Opferschutzorganisation „Weißer Ring" damit beauftragt, Vorschläge für eine Entschädigung zu machen.

Auch aus Tirol wurden in der Zwischenzeit mutmaßliche Fälle von medizinischen Experimenten an Heimkindern bekannt. So deckte nach Jägers Vorwürfen der Historiker Horst Schreiber, Mitglied der Heimuntersuchungskommission in Tirol, folgendes auf: An der Innsbrucker Kinderpsychiatrie sei ein fünfjähriger Junge wegen „Jähzorns“ mit Röntgenstrahlen ruhiggestellt worden, wie „Die Presse“ berichtet. Zudem soll eine bereits verstorbene Psychiaterin, die die Einrichtung  bis 1987 leitete, „einen Kreuzzug gegen die Onanie und gegen sexuelle Übererregtheit“ geführt haben und dabei bis Ende der 70er-Jahre Kindern unter zehn Jahren Epiphysan gespritzt haben. Das Mittel stammt aus der Tiermedizin und wurde damals zur Unterdrückung des Brunftverhaltens bei Kühen angewendet.

Doch auch in Deutschland wurde bereits von medizinischen Versuchen mit Heimkindern und Misshandlungen berichtet. Im Abschlussbericht des Arbeitskreises „Runder Tisch ehemaliger Heimkinder“ ist zu lesen: „Berichte ehemaliger Heimkinder erwähnen, dass das Verabreichen von Psychopharmaka in manchen Heimen keine Ausnahme war.“ Genauer lasse sich dies heute jedoch nicht mehr beweisen, da sich in Akten und wissenschaftlichen Arbeiten bislang keine konkreten Hinweise haben finden lassen.