"Es sollte unser Ziel sein, Fernsehen für alle zu machen"

Sie ist eine der erfolgreichsten Fernsehmacherinnen Deutschlands: Heike Hempel, Leiterin der "ZDF-Hauptredaktion Fernsehfilm/Serie II" verantwortet einen Großteil des fiktionalen Angebots der Mainzer.  (Bild: ZDF / Tim Thiel)
Sie ist eine der erfolgreichsten Fernsehmacherinnen Deutschlands: Heike Hempel, Leiterin der "ZDF-Hauptredaktion Fernsehfilm/Serie II" verantwortet einen Großteil des fiktionalen Angebots der Mainzer. (Bild: ZDF / Tim Thiel)

Fiktionale Unterhaltung erlebt nicht nur bei Netflix und Co. einen Boom, auch im ZDF und in der Mediathek sind Formate wie "Herzkino" oder "Die Rosenheim-Cops" gefragt. "Wenn man tagsüber mit Krankheit, Tod und einem drohenden Weltkrieg zu tun hat, dann möchte man am Abend auch mal die Probleme vergessen", weiß ZDF-Fiction-Redakteurin Heike Hempel.

Sie ist eine der erfolgreichsten Fernsehmacherinnen Deutschlands: Heike Hempel, Leiterin der "ZDF-Hauptredaktion Fernsehfilm/Serie II" verantwortet einen Großteil des fiktionalen Angebots der Mainzer. Sie und ihre Redaktion sind für hochkarätige und vielfach preisgekrönte Eventproduktionen wie "Dresden", "Unsere Mütter, unsere Väter" oder die "Ku'damm 56/59/63"-Reihe ebenso wie für das legendäre "Herzkino" am Sonntagabend bekannt. Sie verantwortet erfolgreiche Marken, von den "Rosenheim-Cops" über den "Bergdoktor" bis hin zum "Traumschiff", außerdem entstehen in ihrer Redaktion neue Primetime-Serien wie "Fritzie" oder "Dr. Ballouz", Sitcoms und Dramaserien für ZDFneo und Webserien für die Mediathek. Im Interview spricht Heike Hempel über das Filmemachen in schwierigen Zeiten und die besondere Verantwortung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens angesichts einer augenscheinlich auseinanderdriftenden Gesellschaft.

teleschau: Frau Hempel, am Sonntag 24. April, startet auf dem "Herzkino"-Sendeplatz die letzte Staffel der Erfolgsserie "Ella Schön". Sind Sie traurig, dass sich Annette Frier entschlossen hat, aufzuhören?

Heike Hempel: Ja, sehr! Denn wie so viele bin auch ich ein Fan von Annette Frier. "Ella Schön" hat von ihrer Art und Weise, diese Hauptfigur mit Asperger-Syndrom zu spielen, gelebt. Daher denken wir gar nicht erst über eine Fortsetzung mit einer anderen Besetzung nach. Aber ich darf immerhin verraten, dass wir mit ihr gemeinsam auf der Suche nach neuen Stoffen sind. Ich bin also guter Dinge, dass es bald wieder eine sehenswerte ZDF-Produktion mit ihr geben wird.

teleschau: Corona, Krisen und der Krieg in der Ukraine: Spüren Sie eigentlich an der Resonanz auf Ihre Filmproduktionen, dass diese Gesellschaft seit über zwei Jahren unter Dauerstress steht?

Hempel: Ja - natürlich. Wenn man tagsüber mit Krankheit, Tod und einem drohenden Weltkrieg zu tun hat, dann möchte man am Abend auch mal die Probleme vergessen - oder gegen die von anderen Menschen eintauschen, um dann am nächsten Tag mit ausgeruhtem Geist wieder der Gegenwart zu begegnen. Aktuell bei den schrecklichen Bildern des Ukraine-Krieges sehen wir: Das Bedürfnis nach geprüfter Information steigt genauso wie das Bedürfnis nach Geschichten, die woanders spielen. Formate wie unsere "Herzkino"-Filme, der "Bergdoktor", die Filme der "Ku'damm"-Reihe oder auch "Die Rosenheim-Cops" sind in diesen Zeiten nicht nur linear stark nachgefragt, sie funktionieren in der Mediathek besser denn je. Es scheint also eindeutig so zu sein: Die Menschen brauchen in schwierigen Zeiten auch ein gewisses Maß an Ablenkung.

teleschau: Gehört das zum Auftrag des öffentlich-rechtlichen Fernsehens?

Hempel: Ja, unbedingt. Fiktionale Unterhaltung bietet ja nicht nur die Gelegenheit, mich in einer anderen Welt zu erholen, damit ich die Kraft habe, am nächsten Tag wieder meinen Alltag zu meistern. Sondern die Fiktion bietet auch die Möglichkeit, in einer sich aufspaltenden Gesellschaft, Ereignisse zu schaffen, die alle teilen, nicht nur ein paar Follower. Nehmen Sie zum Beispiel "Ku'damm": "Ku'damm 63" hat linear als Fernsehereignis funktioniert und ist gleichzeitig das erfolgreichste fiktionale Angebot in der ZDF-Mediathek des letzten Jahres. Hier haben mit unterschiedlichen Nutzungswegen mehrere Generationen eine aus weiblicher Sicht erzählte Familiengeschichte der 50er- bis 60er-Jahre verfolgt, die uns klarmacht, wo wir herkommen und wie es sich angefühlt hat, vor gar nicht so langer Zeit jung und weiblich zu sein in Deutschland. Es sollte unser Ziel sein, Fernsehen für alle zu machen. Dazu gehört auch, die unterschiedlichen Milieus zu erkunden, denn unsere Gesellschaft ist ja nicht so kulturell oder sozial homogen, wie wir meinen. So eine Konfliktlinie zeigt zum Beispiel "Mein Freund, das Ekel".

teleschau: Eine Serie mit Dieter Hallervorden und Alwara Höfels ...

Hempel: Genau. Sie spielt eine Frau, die weder lesen noch schreiben kann und die ihre drei Kinder, von drei unterschiedlichen Vätern, in einer Plattenbauwohnung allein großzieht und - komödiantisch erzählt - auf den "Bildungsbürgerbesserwisseropa" Hallervorden trifft. Genau so verstehe ich öffentlich-rechtliches Fernsehen. Es geht darum, immer wieder Dinge auszuprobieren und zu versuchen, aus allen Lebenswelten und von diversen Identitäten zu erzählen - stets so lebensnah und unterhaltsam wie möglich.

Der Abschied naht: Zum letzten Mal schlüpft Annette Frier in der finalen Staffel von "Ella Schön" in die Rolle der Anwältin mit Asperger-Syndrom. Die erste Folge der letzten Staffel läuft am Sonntag, 24. April, 20.15 Uhr, im ZDF.
 (Bild: ZDF/Rudolf Wernicke)
Der Abschied naht: Zum letzten Mal schlüpft Annette Frier in der finalen Staffel von "Ella Schön" in die Rolle der Anwältin mit Asperger-Syndrom. Die erste Folge der letzten Staffel läuft am Sonntag, 24. April, 20.15 Uhr, im ZDF. (Bild: ZDF/Rudolf Wernicke)

"Hatten nur ganz wenige Ausfälle im Produktionskalender"

teleschau: Wie hat sich die Pandemie auf die Produktionen selbst ausgewirkt?

Hempel: Es war für alle eine Herausforderung, aber es lief erstaunlich gut. Wir hatten nur ganz wenige Ausfälle im Produktionskalender. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass wir unsere Arbeit neu erfinden mussten. Da wurde vieles sehr flexibel und kreativ gelöst von Seite der Produzentinnen und Produzenten und der Teams. Denken Sie nur an das "Traumschiff", das coronabedingt seine Destinationen kurzfristig ändern musste, Reisepläne wurden über Bord geworfen. Und etwas kleiner, aber kaum weniger kompliziert: Natürlich waren Küsse oder Umarmungen plötzlich nicht mehr möglich. Also wurden Szenen, ganze Drehbücher für das Herzkino umgeschrieben. Es war beeindruckend zu sehen für uns als Auftraggeber, wie kooperativ und kreativ die Branche hier zusammengearbeitet hat.

teleschau: Gibt es überhaupt noch so etwas wie den klassischen "Herzkino"-Film?

Hempel: Das "Herzkino" ist bekanntlich der Sendeplatz für große Gefühle, nur: Die Gefühle ändern sich im Laufe der Zeit, und wir versuchen à jour zu sein.

teleschau: Lange galt der ZDF-Film am Sonntagabend als romantisches Versprechen ...

Hempel: Ja. Mittlerweile ist das Spektrum aber viel breiter. Wir erzählen gern romantische Komödien, aber auch komplexere Familiengeschichten, Geschichten von Freundschaft, und wir lassen auch Themen wie Krankheit und Trauer nicht außen vor.

teleschau: "Ella Schön" mit Annette Frier spielt am Darß, die "Frühling"-Filme mit Simone Thomalla in Oberbayern ...

Hempel: Ja, das ist natürlich kein Zufall. Wir fokussieren uns mehr auf die Heimat als noch vor einigen Jahren. In den 90er-Jahren waren die fernen Länder Sehnsuchtsorte, aber mittlerweile ist schon fast jeder mal auf Fernreise gegangen und ist bereit, die Schönheit in der Nähe wieder zu entdecken. Das entspricht auch unseren sich durch den Klimawandel und die Energiepolitik wandelnden Gewohnheiten. Figuren zu erzählen, die mit ihrer Heimat verwurzelt sind, scheint mir wichtig zu sein. Wie beispielsweise "Dr. Ballouz" in der gleichnamigen Serie.

teleschau: Die Serie mit dem von Merab Ninidze gespielten Arzt startet am Donnerstag, 21. April, in die zweite Staffel ...

Hempel: Genau. Er ist der Arzt, nach dem wir uns alle sehnen in diesen Zeiten: empathisch, kompetent - mit Herzenswärme und Hingabe für seinen Beruf. Er kommt ursprünglich aus dem Libanon, aber seine Heimat ist längst die Uckermark, dort ist er fest verwurzelt. Ich finde, hier gelingt, was wir uns vorgenommen haben: Diversität selbstverständlich und beiläufig zu erzählen.

Auch in der zweiten Staffel bleibt die ZDF-Arztserie "Doktor Ballouz" ihren Prinzipien treu: Dramatische Patientengeschichten werden unaufgeregt leise und mit viel Feingefühl erzählt: Das Schicksal des elfjährigen Finn (Otis Ray Whigham, rechts) rührt den empathischen Doktor Ballouz (Merab Ninidze). Neue Folgen gibt es ab Donnerstag, 21. April, 20.15 Uhr. (Bild: ZDF / Jana Lämmerer)

"Humor verbindet uns mit dem Besten in uns"

teleschau: Was auffällt: Fast alle neuen Formate aus Ihrer Redaktion haben einen humorvollen Grundton.

Hempel: Ja. Humor verbindet uns mit dem Besten in uns. Das gilt auch für fiktionale Figuren, es macht sie offener und gibt ihnen eine interessante Energie. Humor ist gerade auch für das Erschließen neuer Zuschauergruppen wichtig. Wir müssen mehr überraschen.

teleschau: Am Donnerstag, 12. Mai, startet mit "Wendehammer" eine besonders hochkarätig besetzte Serie im ZDF ...

Hempel: Genau, hier erzählen wir komödiantisch von fünf Freundinnen, gespielt von Meike Droste, Alice Dwyer, Susan Hoecke, Friederike Linke und Elmira Rafizade in den Hauptrollen, die in einer Reihenhaussiedlung in einer Kleinstadt Nachbarinnen sind. Sie meistern ihren Alltag gemeinsam und haben auch eine Leiche im Keller, beziehungsweise im See, aus ihrer Jugendzeit. Es gibt also auch ein gewisses Mystery-Element, aber vor allem geht es humorvoll um das Thema Freundschaft und Zusammenhalt in einer komplizierten Welt. Ich bin gespannt, wie das angenommen wird.

teleschau: Das Format, auf das Sie sich derzeit am meisten freuen?

Hempel: Ja - zusammen mit "Becoming Charlie", einer kleinen, feinen, relevanten Serie über Non-Binarität, die wir ab 20. Mai in der Mediathek und am 24. Mai bei ZDFneo ausstrahlen.

teleschau: Worum geht es?

Hempel: Charlie ist Anfang 20, kommt aus einer Plattenbau-Siedlung in Offenbach, lebt in schwierigen Familienverhältnissen und hat Geldsorgen. Außerdem fühlt sich Charlie weder als Mann noch als Frau - was Charlie zunehmend zusetzt. Die Serie erzählt von dem Suchen und Finden der eigenen Identität in einem Umfeld, in dem wenig Verständnis für Non-Binarität, aber auch wenig Wissen darüber vorhanden sind. Eine junge Serie, die mit Emotionalität, Authentizität, Humor aber auch bitterer Realität die gesellschaftsrelevante Geschichte eines jungen Menschen auf der Suche nach sich selbst aus einem prekären Milieu heraus erzählt.

teleschau: Von der Ausstrahlung im ZDF-Hauptprogramm ist ein derartiger Stoff aber vermutlich noch Lichtjahre entfernt, oder?

Hempel: Würde ich nicht sagen. Auch das ZDF-Hauptprogramm erweitert kontinuierlich das fiktionale Angebot mit gesellschaftsrelevanten, aktuellen und modernen Themen. Dennoch kommt alles zu seiner Zeit - "Becoming Charlie" hätte schon rein formell nicht ins Hauptprogramm gepasst, die einzelnen Folgen sind kaum eine Viertelstunde lang. Diese sogenannten "Instant Fiction"-Serien werden für die Mediathek produziert - für ein webaffines, jüngeres Publikum. Sie können schnell umgesetzt werden und ermöglichen, dass wir auch mal hochaktuell sein können, im Gegensatz zu TV-Serien, die oftmals zwei bis drei Jahre Vorlauf haben. Sie sind keine Quotendampfer wie das "Traumschiff", sondern rasante, hippe Schnellboote für die Mediathek.

"Wenn man tagsüber mit Krankheit, Tod und einem drohenden Weltkrieg zu tun hat, dann möchte man am Abend auch mal die Probleme vergessen - oder gegen die von anderen Menschen eintauschen, um dann am nächsten Tag mit ausgeruhtem Geist wieder der Gegenwart zu begegnen", sagt Heike Hempel. "Aktuell bei den schrecklichen Bildern des Ukraine-Krieges sehen wir: Das Bedürfnis nach geprüfter Information steigt genauso wie das Bedürfnis nach Geschichten, die woanders spielen." (Bild: ZDF / Tim Thiel)

"Wir wollen in den Filmen junge, alte, dicke, dünne Frauen feiern"

teleschau: Was muss anno 2022 ein Plot, ein Drehbuch grundsätzlich haben, um Ihren Segen zu finden?

Hempel: Wenn ich das vorhersage, dann überrascht es mich ja nicht mehr. Ich finde das überraschende Element wichtig, dann Humor und auch eine gewisse Relevanz.

teleschau: Von "Ku'damm" oder "Der Palast" bis hin zu "Unsere Mütter, unsere Väter" oder "Dresden" stand Ihre Redaktion seit jeher auch für zeitgeschichtliche TV-Events ...

Hempel: Absolut. Da zeigen wir beim ZDF wirklich Exzellenz. Jedoch überlegen wir auch hier einiges neu. Wir sind weggekommen von der rein historischen Betrachtung, hin zu einem Fokus auf Familiengeschichten. Das Private rückt in den Vordergrund, es darf auch komödiantisch oder soapig sein - und trotzdem erfährt das Publikum alles über die Zeit, und zwar auch einmal aus einer scheinbar privaten Perspektive

teleschau: Die Parität ist eines Ihrer großen Anliegen, richtig?

Hempel: Es ist mittlerweile eine Selbstverständlichkeit - allerdings noch nicht in der Praxis vollständig realisiert. Doch wir sind da auf einem ganz guten Weg, vor und auch hinter der Kamera. Das ist wichtig, da es ganz viel damit zu tun hat, was und wie wir erzählen. Wir wollen in einem möglichst breiten Spektrum Geschichten aus männlicher und aus weiblicher Perspektive erzählen und genau wie bei den männlichen Figuren auch junge, alte, dicke, dünne Frauen feiern. Im Herbst beispielsweise senden wir den Zweiteiler "Süßer Rausch" mit Désirée Nosbusch, Leslie Malton und Suzanne von Borsody in den Hauptrollen. Drei Frauen im besten Alter in einer etwas anderen Familiengeschichte.

Die Frauen aus dem Wendehammer (von links): Meike Nowak (Meike Droste), Julia Arnim (Alice Dwyer), Franziska Schöller (Susan Hoecke), Samira Torabi (Elmira Rafizadeh) und Nadine Jacobi (Friederike Linke). Die neue Serie startet am Donnerstag, 12. Mai, 20.15 Uhr, im ZDF. (Bild: ZDF / Hardy Spitz)
Die Frauen aus dem Wendehammer (von links): Meike Nowak (Meike Droste), Julia Arnim (Alice Dwyer), Franziska Schöller (Susan Hoecke), Samira Torabi (Elmira Rafizadeh) und Nadine Jacobi (Friederike Linke). Die neue Serie startet am Donnerstag, 12. Mai, 20.15 Uhr, im ZDF. (Bild: ZDF / Hardy Spitz)