Sozialismus mit Glamour: Die faszinierende Geschichte des echten Friedrichstadt-Palasts
Zu DDR-Zeiten spielten hier Weltstars von Louis Armstrong bis ABBA. Vor allem die Revue-Shows auf der größten Bühne der Welt sollten mit jenen in Las Vegas mithalten können. Hier kommt die wahre Geschichte zum ZDF-Dreiteiler "Der Palast".
60 Tänzerinnen und Tänzer aus 26 Nationen gehören zum Ensemble des Berliner Friedrichstadt-Palastes. Man muss ein Multitalent sein und - auf höchstem Weltniveau - alles drauf haben, um hier zu tanzen - von klassischem Ballett bis HipHop. Dies erfährt man zu Beginn von "Der Palast - Die Dokumentation" (Montag, 3. Januar, 19.25 Uhr, ZDF) von Ballettdirektorin Alexandra Georgieva. Mit dem ZDF-Dreiteiler "Der Palast" (3.1. bis 5.1., jeweils 20.15 Uhr) wurde zum ersten Mal in den heiligen Hallen des Friedrichstadt-Palasts ein Film gedreht. Er erzählt zwar eine deutsch-deutsche Familiengeschichte, die bis in die frühen 60-er zurückreicht, die wahre Geschichte des Revuetempels wird dabei allerdings bestenfalls gestreift. Wer mehr über die faszinierende und auch immer wieder skurrile Geschichte des Hauses wissen möchte, ist jedoch mit der Dokumention von Andreas Gräfenstein gut bedient.
Vier unterschiedliche Staatssysteme erlebte das Revue-Haus. Getanzt wurde (fast) immer, doch die wirtschaftlichen und künstlerischen Probleme waren dabei durchaus unterschiedlich. Ein Problem hatten jedoch alle, die auf der größten Bühne der Welt auftraten: "Sie schluckt", sagt Choreografin Alexandra Georgieva. "Dein Ausdruck muss das zwei- oder dreifache der normalen Größe sein." Wahrscheinlich weil das Haus so gigantisch war, warb man hier mit der längsten "Kickline" der Welt. Die "Girlreihe" oder eben "Kickline" ist das Herzstück des Revuetheaters, zugleich eine der härtesten Nummern der Show. "Du musst deine Partner links und rechts richtig spüren und die Haltung, die Gradzahl der Bewegungen, muss genau stimmen", mahnt Georgieva.
Die Erfindung der "Girlreihe"
Am 29. November 1919 wurde das damals noch Großes Schauspielhaus genannte Theater wenige hundert Meter von der heutigen Adresse "Am Schiffbauerdamm" eröffnet. Das Gebäude war nach seiner Einweihung 1868 zunächst eine Gourmet-Markthalle, die allerdings wirtschaftlich so schlecht funktionierte, dass sie schon nach wenigen Monaten wieder schloss. Es folgte die Nutzung als militärisches Nachschubarsenal und danach als gigantischer Zirkus mit 5.000 Plätzen.
Nach dem Ersten Weltkrieg wollte der legendäre Theatermacher Max Reinhardt das Haus zur Inszenierung seiner monumentalen Bühnenstücke und Klassiker nutzen. Reinhardt war es auch, der die ersten "Girlreihen" auf die Bühne brachte. Dabei sollten die Frauen sollten möglichst identisch aussehen und sich perfekt im Gleichschritt bewegen. Die britischen Tiller Girls gelten als erste, die diese Kunst im Berlin des Jahres 1919 auf die Bühne brachten. Bald gab es aber auch eine eigene "Kickline" im Großen Schauspielhaus, zu der auch eine damals noch unbekannte Tänzerin namens Marlene Dietrich gehörte. 1922 feierte die Dietrich ihren ersten Auftritt als Revue Girl im Vorläuferhaus des Friedrichstadt-Palastes.
Das 1919 vom berühmten Architekten Hans Poelzig kunstvoll umgebaute Gebäude war da schon ohne Revue als Hingucker. Die kolossale Kuppel mit ihren Gipsstalaktiten galt als Meisterwerk. Allerdings eines, das den Nazis nicht gefiel, was auch auf die freizügig verschwenderischen Revues zutraf. Sie verstümmelten den Bau und nannten ihn in "Theater des Volkes" um, wo ab sofort leichte Operetten gegeben wurden. Erst die sonst eher nicht für ihren Glamourfaktor berühmte DDR bekam wieder die Kurve zurück zur Revue. 1945 wurde im Krieg der Bühnenraum am Schiffbauerdamm zerstört. Mit einem Fallschirm hatte man ein Loch in der Kuppel abgedeckt. Schon im August 1945 fanden wieder erste Vorstellungen statt. Direktorin Marion Spadoni veranstaltete nach Kriegsende das "Varieté der 3000". Ab 1947 hieß das Haus dann Friedrichstadt-Palast.
Carmen Nebel: "Sechsmal im Jahr blieb man zu Hause am Samstag"
Wolfgang Jansen, der zur Geschichte des "Palastes" forscht, erzählt in der Doku, warum der Tanztempel in den Jahren und Jahrzehnten danach zu etwas ganz Besonderem wurde: "Im Westen sind keine Varietés, keine Revue-Theater, keine Operetten-Theater öffentlich finanziert worden. Es gab (dort) Ende der 60-er nur noch ein einziges Varieté, das war das Hansa-Theater in Hamburg. Alles andere war zu oder in den "Nachtbetrieb" übergegangen." Gemeint sind Striptease-Etablissements und Artverwandtes. In der DDR hingegen waren alle Theater öffentlich finanziert.
Ohne das sozialistische Geld hätte es den Aufstieg des Friedrichstadtpalastes nicht gegeben. Allerdings machte der Mauerbau 1961 den Palastbesuch für Westdeutsche deutlich schwieriger. Dennoch blieben die Künstler international und brachten die große weite Welt in die DDR. Von ABBA bis Mireille Mathieu, von Gilbert Bécaud bis Louis Armstrong, der 1965 seine erste und einzige Tournee durch die DDR veranstaltete. Sogar die stimmgewaltige Shirley Bassey sorgte für James Bond-Glamour im Ostblock.
1980 senkte sich der Vorhang im alten Friedrichstadt-Palast nach 61 Jahren für immer. Fast über Nacht musste man schließen, weil es baustatische Probleme gab, die mit einem Neubau der benachbarten Charité zusammenhingen. DDR-Staatschef Erich Honecker galt als großer Fan des Glamours "made in DDR", vor allem des Balletts, so dass er unglaubliche 213 Millionen Mark der DDR für einen Neubau aus der klammen Kasse des Landes loseiste.
1985 wurde der neue Friedrichstadt-Palast eröffnet. Auch die beliebteste Unterhaltungsshow des Landes, "Ein Kessel Buntes", war hier regelmäßig zu Gast. In der Doku erinnern sich ehemalige Künstler, Moderatoren und Besucher wie Carmen Nebel, Wolfgang Lippert und Gregor Gysi an die Abende im Palast. An eine Zeit, als der Sozialismus tanzte und fantastisch aussehen sollte. "Sechsmal im Jahr blieb man zu Hause am Samstag", erinnert sich Carmen Nebel, denn dann gab es "Ein Kessel Buntes".
Wie Wolfgang Lippert und Frank Elstner für einen Skandal sorgten
Auch an einen skurrilen DDR-Unterhaltungsskandal erinnert die Doku: Wolfgang Lippert reiste 1988 unter Vorspiegelung falscher Tatsachen nach West-Berlin und trat dort in Frank Elstners Live-Unterhaltungsshow "Nase vorn" auf. Lippert war damals amtierender "Fernsehliebling 1988" in der DDR - doch nun sahen ihn 18 Millionen Zuschauer in einer BRD-Show. Der DDR-Fernsehdirektor soll Lippert damals zu ewigem Auftrittsverbot verdammt haben - doch dann änderten sich ja bekanntlich die Zeiten.
Als die Mauer 1989 fiel, gingen die Zuschauerzahlen im Friedrichstadtpalast schlagartig zurück. "Da war man fast leer", erinnert sich ein Macher von damals. Ihre neue Freiheit genossen die ehemaligen DDR-Bürger nun lieber in BRD-Musicals, oder man fuhr zu Shows nach London, Paris und New York. Seit 1991 hat Friedrichstadt-Veteranin Alexandra Georgieva zweimal erlebt, dass das Haus aus wirtschaftlichen Gründen beinahe schließen musste. Die Marlene Dietrich-Gala Ute Lempers im Jahr 2001 zum 100. Geburtstag der deutschen Diva von Weltruhm gilt als Trendwende. Ab da waren Shows im "Palast" wieder angesagt.
Seit 2007 arbeitet Berndt Schmidt als Intendant am Friedrichstadt-Palast. Von dieser Zeit an laufen die Revuen im Zweijahres-Rhythmus, sie sind noch opulenter und aufwendiger als früher. "The One Grand Show" (Budget: elf Millionen Euro) sahen 2019 mehr als 800.000 Besucher. Es war der größte Erfolg des Hauses. Ab März 2020 stand wegen Corona alles still, für 17 Monate. Immerhin wird in jener Zeit die neue Show "Arise" vorbereitet und ab September 2021 gespielt. Irgendwann wird der "Palast" wohl auch die Pandemie überlebt haben. Vielleicht bringt Carmen Nebel den Grund dafür in der Doku am besten auf den Punkt: "Die Leute werden immer Spaß an Opulenz haben, sie werden dieses sinnfreie Schauen immer brauchen".