Als die Bundesliga eine besondere Legende verlor

Als die Bundesliga eine besondere Legende verlor
Als die Bundesliga eine besondere Legende verlor

Als Hans-Jörg Criens am 1. Mai 1984 im Bökelbergstadion am Seitenrand steht, weiß er noch nicht, dass die kommende knappe halbe Stunde sein Fußballer-Leben verändern wird.

Es läuft die 82. Minute im ersten Halbfinale des DFB-Pokals zwischen Borussia Mönchengladbach und Werder Bremen, als Borussias Trainer - ein gewisser Jupp Heynckes - den 23 Jahre jungen Stürmer einwechselt.

Was folgt, ist ein spektakuläres Kapitel deutscher Fußball-Geschichte, das dem jungen Criens einen Ehrenplatz in der Vereinschronik gesichert hat. Und das in bittersüße Erinnerung gerufen wurde, als Criens heute vor vier Jahren - am zweiten Weihnachtsfeiertag 2019 - zu früh aus dem Leben gerissen wurde.

Hans-Jörg Criens‘ Spiel für die Ewigkeit

Schon vor dem Anpfiff von Criens‘ großem Spiel stand fest, dass das Spiel in die Annalen eingehen würde: Zum ersten Mal übertrug damals die ARD abseits des Endspiels ein Pokal-Spiel live und bot dem Zuschauer die ganze Palette an Emotionen - für die später sogar die Tagesschau und die Nachrichten zu den gewaltsam unterdrückten Arbeiterprotesten in Polen verschoben werden mussten.

Auch in Gladbach geht es dramatischer zu, als es in einem Fußballspiel zugehen sollte: Eine Rauchbombe, aus der Tränengas entweicht, fliegt aus dem Werder-Block aufs Spielfeld. Gladbachs Uwe Rahn und der Bremer Wolfgang Sidka brechen auf dem Platz zusammen und müssen ärztlich versorgt werden.

Nur Augenblicke nach Criens‘ Einwechslung überschlagen sich die sportlichen Ereignisse dieser ohnehin schon atemberaubenden Partie - in der der Torreigen auf Gladbachs Seite vom jungen Lothar Matthäus eröffnet wurde.

3:4 nach 1:3 - doch dann kam Criens

Werder, das in der 76. Minute bereits 1:3 in Rückstand lag, dreht den Spieß um und führt nach drei Treffern innerhalb von fünf Minuten - Benno Möhlmann, Sidka, Uwe Reinders - auf einmal mit 4:3.

Doch die Gastgeber geben nicht auf und schlagen in der Nachspielzeit zurück. Nach einer Flanke in den Strafraum ist es Criens, der mit einem Abstauber per Kopf zum 4:4 ausgleicht und die Verlängerung erzwingt.

"Ich habe mir damals erzählen lassen, dass Tausende schon das Stadion verlassen hatten und beim Jubelschrei zurückgekommen sind. Das beinhaltet alles, was uns dieses Spiel gegeben hat", sagt Criens rückblickend in der ARD.

In der 107. Minute macht sich Gladbachs Einwechselspieler dann zur Fohlen-Legende: Er holt einen langen Pass mit dem rechten Fuß herunter, berührt den Ball im Strafraum noch mit dem Kopf, bevor er ihn per Dropkick in die Maschen zimmert.

"Die Freude habe ich nie wieder empfunden"

„Die Emotionen und Freude, die ich nach diesem Tor hatte, habe ich in dieser Weise nie wieder empfunden“, erinnert sich der Angreifer später. In dieser Partie prägt Criens den Begriff des „Jokers“, den der ARD-Kommentator Heribert Faßbender fast beiläufig fallen lässt.

„Wären wir damals schon im digitalen Zeitalter gewesen, hätte ich mir diesen Begriff schützen lassen, weil er auf mich projiziert wurde“, sagte Criens mit einem Augenzwinkern.

Das Pokal-Halbfinale gegen Bremen, das die Borussia am Ende mit 5:4 für sich entscheidet, wird letztlich zum Beschleuniger einer bemerkenswerten Karriere.

„Criens spielte Fußball wie Woody Allen“

Der in Neuss geborene Criens spielt von 1981 bis 1993 für Borussia Mönchengladbach in der Bundesliga. In dieser Zeit erzielt er in 290 Spielen 92 Tore. Nur Jupp Heynckes (195) und Herbert Laumen (97) erzielten mehr Tore im Trikot der Borussia. Mit Gladbach erreicht er nach 1984 auch 1992 das Pokal-Finale, scheitert aber zwei Mal.

In der Person Criens - der an seinen guten Tagen genial war, an schlechten das Sinnbild für den Spruch „Zwischen Welt- und Kreisklasse“ - spiegelt sich viel vom Freud und Leid, das Gladbachs Fans während seiner Laufbahn empfunden haben.

„Hans-Jörg Criens spielte Fuß­ball wie Woody Allen in seinen Filmen: gewitzt und doch voller Melan­cholie. Im schein­baren Wissen dar­über, dass alles halb so wild ist und doch furchtbar wichtig“, dichtete 11 Freunde im Nachruf über ihn.

Dutzende Gladbach-Legenden bei der Trauerfeier

Von 1993 bis 1995 stand der nie ins A-Nationalteam berufene Criens noch beim 1. FC Nürnberg unter Vertrag. Nach sieben Jahren bei unterklassigen Vereinen beendet er 2002 seine aktive Laufbahn.

Der Familienvater Criens - geschieden von der Schlagersängerin Iris Remmertz (Wind) - blieb dem Fußball als Trainer im Amateurbereich und als Teil der Gladbacher Hennes-Weisweiler-Traditionself verbunden. Im Hauptjob war er zuletzt als Fahrer für Krankentransporte tätig.

Am 26. Dezember 2019 starb Criens an einem Herzinfarkt, zu seiner Beerdigung erschien eine riesige Trauergemeinde mit dem damaligen Sportvorstand Max Eberl und Dutzenden Gladbach-Legenden aus verschiedenen Generationen, von Wolfgang Kleff über Bachirou Salou bis Oliver Neuville.

Hans-Jörg Criens wurde beigesetzt in der Krypta der Gladbacher Grabeskirche St. Elisabeth, wenige hundert Meter entfernt vom Ort des 2006 abgerissenen Bökelberg-Stadions. Dem Ort, an dem Hans-Jörg Criens innerhalb von 17 Minuten ein sportliches Vermächtnis für die Ewigkeit schuf.