Wolffs späte Einsicht

Wenn die deutsche Nationalmannschaft am Freitagabend gegen Katar (ab 18.00 Uhr im SPORT1-Liveticker) um einen positiven WM-Start kämpft, startet Andreas Wolff in sein ganz persönliches Heimturnier.

Seit 2019 steht der Torhüter bei KS Kielce unter Vertrag und hat mittlerweile das Kapitänsamt des polnischen Rekordmeisters inne. Gerade einmal rund 120 Kilometer liegt seine Wahlheimat von der deutschen Spielstätte Kattowitz entfernt. (NEWS: Alles Wichtige zur Handball-WM)

Für Wolff ist es auch der Ort, in dem er seinen bisher größten sportlichen Triumph feierte. Sieben Jahre ist es her, als sein Stern bei der Europameisterschaft 2016 in Polen aufging und er das DHB-Team zum sensationellen Titelgewinn führte.

Unvergessen bleibt vor allem das Endspiel gegen Spanien (24:17), als Wolff seinen Kasten vernagelte, die Iberer mit unzähligen herausragenden Paraden und einer Fangquote von 50 Prozent schier zur Verzweiflung brachte. „Andi war damals wahrscheinlich der wichtigste Spieler. Er kam aus dem Nichts, war relativ unbekannt und hat ein überragendes Turnier gespielt“, sagte der heutige Bundestrainer Alfred Gislason im ARD-Interview.

Seitdem konnte Wolff an die goldenen Zeiten im Nationaltrikot aber nicht mehr in diesem Maß anknüpfen, sondern scheiterte oftmals an sich selbst. Dass sich dieses Mal jedoch wieder alles zum Guten wenden könnte, verspricht die neue Mentalität des Torhüters.

Schwierige Zeiten für Wolff in Kiel

Nach dem EM-Gewinn 2016 wurde der ehrgeizige und oftmals impulsive Wolff quasi über Nacht das Gesicht des deutschen Handballs. Der heute 31-Jährige nahm kein Blatt vor den Mund, war in den Medien plötzlich omnipräsent, genoss das Rampenlicht und schreckte selbst vor TV-Shows nicht zurück.

Auch auf der sportlichen Ebene schlug die deutsche Nummer eins einen neuen Weg ein. Er wechselte von der vergleichsweise kleinen HSG Wetzlar zum großen THW Kiel – eigentlich nur die logische Folge des rasanten Aufstiegs.

Lange sollte Wolffs Höhenflug jedoch nicht mehr anhalten. Bei den Norddeutschen traf er erstmals in seiner Karriere auf echten Widerstand, da ihn der Däne Niklas Landin in die zweite Reihe verdrängte. Ein Bankplatz wurde für den EM-Helden allmählich zum Alltag.

Für den extrovertierten Wolff entstand somit eine ungewohnte Situation. Der Kontrast zwischen dem eigenen Anspruch und der Realität nagte sichtlich an ihm. Er wirkte verbissen, teilweise verkrampft, für Außenstehende unnahbar und explodierte regelmäßig nach Gegentreffern. Sowohl im Verein als auch in der Nationalmannschaft fehlte es ihm an Konstanz.

All das habe der DHB-Schlussmann mittlerweile hinter sich gelassen. „Er ist immer ein ziemlicher Hitzkopf gewesen. Er hatte seine Höhen und Tiefen“, erklärte Gislason. Nun sei Wolff „deutlich reifer geworden“.

Wolff nahm sich eine Sportpsychologin zur Hilfe

Zufall ist das nicht. Wolff verließ Kiel nach drei Jahren und fand in Kielce als unumstrittener Stammtorhüter sein Glück. In Kombination mit externer Hilfe vollzog er einen Sinneswandel, der seit Jahresbeginn auch bei der Nationalmannschaft zu sehen ist.

„Ich habe viel mit den Trainern und den Teamkollegen gesprochen und auch mit einer Sportpsychologin. Ich habe erkannt, dass blinder Ehrgeiz nicht zielführend ist und es nichts bringt, sich unter Druck zu setzen, sodass man gefühlt die Last der ganzen Welt auf den Schultern trägt“, berichtete Wolff vor der Abreise der deutschen Mannschaft nach Kattowitz.

Inzwischen seien die Zeiten vorbei, in denen er meinte, in jedem Spiel jeden Ball halten und die Mannschaft im Alleingang zum Sieg führen zu müssen, versprach Wolff.

„Ich habe realisiert, dass Handball ein Mannschaftssport ist und es teilweise wichtiger ist, nur die wichtigen Bälle zu halten. Das ist ein Reifeprozess, den ich durchgemacht habe. Der führt dazu, dass ich die Dinge lockerer sehe“, ergänzte der gebürtige Euskirchener.

Wolff spielt eine starke Saison bei Kielce

Dass sich die DHB-Auswahl um Bundestrainer Alfred Gislason auf einen sicheren Rückhalt freuen darf, unterstreichen die Zahlen der laufenden Champions League-Saison.

Lediglich Tobias Thulin (131) von GOG Håndbold parierte nach zehn Spieltagen mehr Würfe als Wolff (111). Mit einer Fangquote von 32,17 Prozent und zehn gehaltenen Siebenmetern weist der Deutsche dazu gleich zwei Bestwerte auf.

Im Sommer schaffte es der 31-Jährige mit Kielce sogar bis ins Endspiel der Königsklasse. Dort scheiterten die Polen erst im Siebenmeterwerfen am FC Barcelona.

Und was nimmt sich Wolff bei der Weltmeisterschaft vor? „Vom Potenzial her könnte natürlich eine Medaille möglich sein, aber zuerst müssen wir hochkonzentriert in das Turnier starten. Was dann kommt, werden wir sehen. Ich möchte nicht hohe Ziele formulieren, die wir vielleicht nicht erfüllen können“, sagte er deutlich zurückhaltender als in den vergangenen Jahren.

Gislason gibt Wolff das nötige Vertrauen

Wie weit die Reise für Deutschland bei der Weltmeisterschaft letztlich gehen wird, hängt auch davon ab, ob Wolff die Leistungen aus Kielce in die Nationalmannschaft übertragen kann. (DATEN: Spielplan und Ergebnisse der Handball-WM 2023)

Im Duell mit WM-Neuling Joel Birlehm, der bei den Rhein-Neckar Löwen spielt und das deutsche Gespann zwischen den Pfosten komplettiert, hat Wolff die Nase vorne. „Wir haben zwei gute Torhüter dabei. Aber es ist klar, dass Andi die Nummer eins ist. Er ist der deutlich Erfahrenere und in einer sehr guten Form“, kündigte Gislason vor dem Turnierstart an.

Und sollte Birlehm doch mal von Beginn an auf dem Parkett stehen, möchte sich der EM-Held von 2016 in den Dienst der Mannschaft stellen. „Egal ob du anfängst oder auf der Bank sitzt, du musst immer die Körpersprache voll für das Team haben“, versicherte Wolff.

Inzwischen sei es für ihn nämlich nur noch wichtig, dass das Team Erfolg habe und er seinen Teil dazu beitragen könne.