"Das ist in ganz Europa außergewöhnlich"

„Wir müssen uns nicht kleiner reden als wir sind.“ Als sich Robin Gosens am Mittwochmittag am Rande des öffentlichen Trainings einer Medienrunde, darunter auch SPORT1, als Neuzugang von Union Berlin präsentierte, merkte man förmlich zum ersten Mal bei den Eisernen, dass die Demut ein wenig gewichen ist. Union spielt immerhin Champions League.

Spaziert man entlang der dicht bewachsenen Schrebergärten auf Gehwegen an der bewaldeten Wuhle und kommt an der Hausnummer 263 der namensgleichen Adresse an, man würde kaum vermuten, dass dort Königsklasse gespielt werden könnte. Könnte wohlgemerkt - die Eisernen ziehen für mindestens ihre drei Spiele in der Gruppenphase der Champions League zu ihrem Stadtrivalen Hertha ins Olympiastadion.

Zwar hätte die UEFA die Permission trotz der hohen Stehplatzquote in Köpenick erteilt, das Finanzkonzept Unions geht aber im Olympiastadion einfach besser auf, zu lukrativ die potenziellen Einnahmen. Können sich die Unioner also überhaupt noch dem Image erwehren, dass sie nun selbst zum Big City Club aufgestiegen sind, als erster Hauptstadtklub Deutschlands seit 24 Jahren in der Champions League spielen?

Die Antwort darauf dürfte längst bekannt sein: nein! Zu stringent hat man sich rund um die Wuhlheide nach vorne entwickelt, zu engmaschig das Finanzkonzept, zu geradlinig auch der sportliche Aufstieg. Immerhin gab es seit dem Aufstieg 2019 keine einzige Saison ohne nennenswerte Verbesserung.

2020 der Klassenerhalt im Tabellenmittelfeld, 2021 die Qualifikation zu Conference League, 2022 gar für die Europa League. In diesem Frühjahr setzte der direkte Einzug in die Gruppenphase der Champions League diesem Prozess vorerst die Krone auf.

Champions League? „So ganz realisiert habe ich es noch nicht“

Die Krone scheint mittlerweile auch eher im Darstellungsbild des Vereins angekommen zu sein als die Ritterrüstung des Maskottchens Keule. Und doch haben ritterliche Tugenden wie Demut und Höflichkeit einen fest verankerten Platz – auch im Denken des Trainers Urs Fischer - wenn er über den Einzug in die Champions League spricht. „Ich glaube, so ganz realisiert habe ich es immer noch nicht“, musste er kürzlich im radioeins-Interview eingestehen.

Kommt die Entwicklung für den Schweizer selbst tatsächlich so überraschend? Immerhin leitet er seit sechs Jahren die Geschicke Union Berlins, in dieser Amtszeit hat sich der Klub unaufhörlich entwickelt, was nicht zuletzt die Auszeichnung als Trainer des Jahres stützt – als erst zweiter Schweizer überhaupt.

„Schaut man sich die Biografie meines Kollegen näher an, kommt diese Entwicklung nicht ganz so überraschend wie manchmal angenommen“, sagte Christian Streich jüngst über sein Trainerpendant. Eine Entwicklung, die sich indes auch auf dem Transfermarkt niedergeschlagen hat.

Union-Kader knackt besondere Marke

Laut transfermarkt.de beläuft sich der Marktwert des Kaders mittlerweile auf über 200 Millionen Euro, vor einigen Jahren noch unvorstellbar. Doch was lockt Nationalspieler wie Gosens, der in der abgelaufenen Saison noch für Inter Mailand im Champions-League-Finale auflief, zum vermeintlich bescheidenen Hauptstadtklub?

„Ich wurde direkt von den Emotionen hier angesteckt, die der Verein ausstrahlt. Was hier drumherum passiert, ist einzigartig. Die Emotion, die auf den Platz übertragen wird, das wird hier gelebt vom ganzen Verein“, so Gosens am Mittwoch.

Man muss kein Hellseher sein, dass die Ambitionen auf einen Platz im Kader der deutschen Nationalmannschaft bei der Heim-EM 2024 und die Sichtbarkeit auf dem deutschen Fußballmarkt im Vorfeld ein Entscheidungskriterium gewesen ist. In der Bundesliga zu spielen sei ohnehin „eines meiner großen Lebensziele, einer meiner großen Kindheitsträume“ gewesen, „das ist emotional riesengroß für mich.“

Gosens: „Freue mich wie ein Baby dort aufzudribbeln“

Doch es ist nicht nur ein einseitiges Vorteilsgeschäft. Der 16-malige Nationalspieler hilft den Eisernen ebenso weiter: „Ich hatte das große Glück, fünf Jahre in Folge Champions League zu spielen. Für mich war es der Wettbewerb, bei dem man sich am meisten misst, am meisten persönlich weiterentwickelt. Ich freue mich schon wieder wie ein Baby dort aufzudribbeln.“

Auch Kevin Volland, der mit einer patenten Vita und Stationen wie der AS Monaco oder Bayer Leverkusen aufwartet, findet sich inmitten eines Win-Win-Geschäfts wieder: „Eine Wahnsinns-Atmosphäre, wenn ich es mit Monaco vergleiche, da kriegst du Gänsehaut.“

Es hatte ohnehin lange Zeit den Anschein, als mache man sich bei Union Berlin kleiner als man ist. Ob das nun vorbei ist? Am Mittwoch zählten die Köpenicker immerhin eine neue Rekordkulisse beim öffentlichen Training.

Es bleibt zumindest fraglich, man sehe sich nur die Kontinuität der Arbeit um Fischer und Geschäftsführer Sport, Oliver Ruhnert, an. Immerhin lagen die Transferausgaben des Sommers aber jenseits der 30 Millionen Euro.

Union Berlin ist „in ganz Europa schon außergewöhnlich“

Mit Diogo Leite hat man den portugiesischen Innenverteidiger vom FC Porto letztlich für über sieben Millionen Euro fest verpflichten können, mit Brendan Aaronson und David Datro Fofana kommen zwei vielversprechende Namen aus der Premier League. Dabei ließe sich die Liste noch fortführen, nicht zuletzt um Leonardo Bonucci, der italienische Innenverteidiger könnte sich doch tatsächlich auch noch Union Berlin anschließen.

Da fällt eine Transfer-Posse, wie es sie im vergangenen Sommer um Isco gab, kaum noch ins Gewicht. Eher werden auf Social Media schon Stimmen laut, die dem städteinternen Duell mit der Hertha einigen Hohn zuschreiben. So zieht Union nicht nur phasenweise ins Olympiastadion, auch spielen künftig Lucas Tousart und Alexander Schwolow in Rot-Weiß – beide kamen ablösefrei wohlgemerkt.

Der Weg, den Union geht, ist bemerkenswert. In einer Bescheidenheit, sich stets um Demut bemühend und dennoch sportlich ambitioniert zum Top-Klub heranreifend. Kein Wunder also, dass Robin Gosens am Mittwoch seine Gedanken wie folgt offenbarte: „Das ist in ganz Europa schon außergewöhnlich.“