Kommentar: Kann Nagelsmann die DFB-Jungs mit Köpfchen wieder fit machen?

Alle Zeichen stehen danach, dass Julian Nagelsmann künftig neuer Teamchef der deutschen Nationalmannschaft wird. Angeblich eine Wunschbesetzung von Seiten des DFB, muss er nun eine verunsicherte Elf aufrichten. Die Zweifel sind groß. Aber die Chancen auch.

Ein Kommentar von Jan Rübel

Julian Nagelsmann im Oktober 2022, damals noch Chefcoach bei  Bayern München (Bild: AFP)
Julian Nagelsmann im Oktober 2022, damals noch Chefcoach bei Bayern München (Bild: AFP)

Es ist der Top-Job, bei dem alle es besser wissen und können. So gesehen kann Julian Nagelsmann nur untergehen, sollte er wirklich als Bundestrainer übernehmen. Es sei denn, er holt für uns im kommenden Jahr den Europameisterschaftstitel; darunter machen wir’s nicht. Das ist natürlich eine Operation am offenen Herzen, der Ausgang ungewiss. Und da kann eine Menge schiefgehen.

Denn es ist eine Frage der Perspektive. Die eine geht folgendermaßen: Da trifft ein verkopfter Jungspund auf eine nervöse Millionärstruppe. Nagelsmann stand als gescheitert da, als er im Frühjahr nach nur eineinhalb Jahren als Vereinscoach des FC Bayern München gefeuert wurde. Die Führung in der Bundesliga hatte er eindampfen lassen, in der Kabine soll er die Spieler nicht mehr richtig erreicht haben.

Löst Nagelsmann das Mentalitätsproblem?

Nagelsmann ist erst 36 Jahre alt, war als Spieler nicht gerade ein Star wie Franz Beckenbauer, Rudi Völler oder Jürgen Klinsmann, die seine Vorgänger als Bundestrainer sind. Warum soll also einer wie Nagelsmann, der den Fußball eher von der Datenbank und vom Taktikbrett her angeht, nun diese verunsicherten Jungs aufrichten können? Denn die Nationalmannschaft der Männer hat nicht gerade ein Qualitäts-, sondern ein Mentalitätsproblem. Den Herren ist das Durchbeißen abhandengekommen. Bei Gegenwind fallen sie um. Als Team suchen sie die Gemeinschaft, finden aber allzu oft Disharmonie; und im Zweifel schiebt der eine dem anderen die Verantwortung zu, der Ball wandert bis zum Gegner oder ins Aus.

Darüber hinaus hat der neue Bundestrainer nur neun Monate Zeit, um die Mannschaft hinter sich zu formieren – dann beginnt die Europameisterschaft, und das auch noch im eigenen Land, wo die Erwartungen aus dem Gastgeberstatus heraus noch einmal eine Elle höher gelegt werden. Bisher kannte der Bayer Nagelsmann den Fußball ausschließlich aus dem Vereinsleben, da sieht man sich im Grunde jeden Tag, arbeitet miteinander und aneinander. Als Bundestrainer aber sieht er seine Jungs nur alle paar Wochen, muss seinen Kabinenzauber auf Knopfdruck loslassen können, sie mitreißen. Kann er das? Wir wissen es nicht.

Man kann auch Fakten sprechen lassen

Dies ist aber nur die eine Perspektive. Es gibt auch eine andere.

Nagelsmann gilt als Wunderkind des deutschen Fußballs. Welcher 36-Jährige hat vorher drei Bundesligisten trainiert? In Hoffenheim und Leipzig machte er von sich reden, feierte Erfolge. Und auch bei den Bayern ist seine Gesamtbilanz nicht als Desaster zu werten. In den letzten Wochen wurde Nagelsmann als Trainer von FC Chelsea und von PSG Saint Germain Paris gehandelt: Beide Vereine sind hochprofessionelle Maschinen, Fußballkonzerne, die bei den Unmengen ihres Geldes versuchen, so wenig wie möglich dem Zufall zu überlassen; warum hat man dort ernsthaft daran gedacht, Nagelsmann zu verpflichten? Es wird nicht nur daran gelegen haben, dass der Mann besonders gut inhaliert hat, wie das Pressing- und Umschaltspiel funktioniert. Da muss noch mehr sein.

Und dieses gewisse „Mehr“ muss jetzt her.

Emotionen kann Nagelsmann auch, das hat er zuletzt in München bewiesen. (Bild: Stefan Matzke - sampics/Corbis via Getty Images)
Emotionen kann Nagelsmann auch, das hat er zuletzt in München bewiesen. (Bild: Stefan Matzke - sampics/Corbis via Getty Images)

Über den Kopf ins Herz

Nagelsmann kann die schwächelnden Profis gerade über seinen Kopf erreichen. Er kann ihnen einbimsen, was sie schon können, aber derzeit in der Nationalmannschaft nicht abrufen. Er kann es ihnen in Erinnerung bringen. Nagelsmann brennt für den Sport. Das eine oder andere dieses Loderns wird er weitergeben können.

Bundestrainer, das ist schließlich nicht nur eine Ehre, sondern die Chance seines Lebens. Schafft es Nagelsmann, das Team zumindest wieder aufs Gleis zu stellen und einen ansehnlichen Fußball spielen zu lassen – dann wird er der Topmann im internationalen Fußball der kommenden Jahrzehnte. Ein bisschen Top oder Flop. Nagelsmann wird nun in die Waagschale werfen, was er auftreiben kann. Und vielleicht steckt ja in ihm eine Leidenschaft wie bei Klinsmann und Völler, ein innerer Durchmarschbefehl wie bei Lothar Matthäus. Dass er als Bundestrainer an einer Mannschaft arbeiten wird, die er nicht täglich sieht, kann seine Konzentrierung nur erhöhen; und man kann Nagelsmann nicht nachsagen, dass er in seinen bisherigen Aufgaben nicht fokussiert gewesen sei.

Er hat nun das Vertrauen, auf Zeit. Nagelsmann ist bestimmt keine schlechte Wahl, auch wenn wir Otto Normalverbraucher einen Hund am Spielfeldrand lieber gesehen hätten, eine Ikone von früher. Aber der Fußball hat sich eh verändert. Kaum jemand steht dafür besser, als Nagelsmann.

Im Video: DFB-Team: Kann Julian Nagelsmann Bundestrainer? | 2nach10