Claudia Pechstein entfesselt einen Orkan

Claudia Pechstein entfesselt einen Orkan
Claudia Pechstein entfesselt einen Orkan

Anfangs war es nur eine Randnotiz, dass Rekord-Olympionikin Claudia Pechstein am Samstag eine Rede auf dem Grundsatzkonvent der CDU hielt.

Im Lauf des Sonntag entwickelte sich die Randnotiz zu einem kleinen Orkan, der Deutschlands Politik-Betrieb in Atem hielt - spätestens ab dem Moment, in dem sich Parteichef Friedrich Merz in der ZDF-Sendung „Berlin Direkt“ in die Diskussion einschaltete.

Vordergründig im Zentrum der Aufmerksamkeit stand die Frage, ob die mit 51 immer noch aktive Eisschnellläuferin und Bundespolizistin bei dem Auftritt ihre Uniform hätte tragen dürfen.

Eine große Rolle spielten dabei allerdings auch die kontroversen Inhalte der Pechstein-Rede, die Merz als „brillant“ pries - und damit mit ins Zentrum einer Grundsatzdiskussion rückte, die die Volkspartei CDU und das politische Deutschland gerade massiv beschäftigen.

Pechstein in Uniform: Auch Rainer Wendt grenzt sich ab

Fokus der Aufmerksamkeit war zunächst die Frage, ob Pechstein mit ihrem uniformierten Auftritt gegen die beamtenrechtlichen Grundsätze der Neutralitätspflicht und des politischen Mäßigungsgebots verstoßen hat. Die dem Bundesinnenministerium von Nancy Faeser (SPD) unterstellte Bundespolizei ermittelt dies nun in einer dienstrechtlichen Prüfung des Vorgangs.

Pechstein verstand die Aufregung nicht, die unter anderem auch der bekannte TV-Satiriker und Polizistensohn Jan Böhmermann äußerte („Ich glaube es hackt“). Sie sei „stolz“ auf ihren Beruf und habe sich überdies vorab bei einem Vorgesetzten und einem Vertreter der Polizeigewerkschaft abgesichert.

Dass diese damit die Tragweite der Angelegenheit falsch eingeschätzt haben, zeigt inzwischen auch die Reaktion von Rainer Wendt, dem Vorsitzenden der konservativen Polizeigewerkschaft DPolG.

Der - nicht zuletzt bei Sportfans - für seine Hardliner-Positionen bekannte Wendt stellte sich in der Frage klar gegen Pechstein und teilte der Bild mit: „Bei öffentlichen Auftritten ist es unbedingt erforderlich, dass die Neutralitätspflicht der Beamtinnen und Beamten zu keiner Zeit in Zweifel gerät. Deshalb rate ich davon ab, in Uniform zu Parteiveranstaltungen zu gehen.“

Auch Pechsteins Inhalte erregen Anstoß

Der Uniform-Auftritt Pechsteins - die nicht Mitglied der CDU ist. 2021 in Berlin aber für sie um ein Bundestagsmandat angetreten war - erregte dabei nicht nur aus prinzipiellen Gründen Anstoß: Der Ärger ihrer Kritiker zielte auch darauf ab, was sie in der Uniform sagte und welche Standpunkte sie vertrat.

Jenseits ihres Spezialgebiets Sportförderung und -politik äußerte sich Pechstein auch zu diversen anderen Themen, forderte von der CDU die Fokussierung auf ein traditionelles Familienbild („Kinder wollen Mama und Papa“) und den Einsatz für eine härtere Asyl- und Abschiebepolitik, Frauen und ältere Menschen hätten in öffentlichen Verkehrsmitteln „Angst, wenn sie nach links und rechts schauen“. Sich darum zu kümmern sei wichtiger als Diskussionen, „ob man ein Gendersternchen setzt“ oder noch „Zigeunerschnitzel“ sagen dürfe.

Die Videos von Pechsteins Äußerungen hierzu gingen am Sonntag in den sozialen Medien viral. Ein Teil der Userinnen und User feierte sie, viele andere zeigten sich verärgert über ihre reaktionären Positionen und verspotteten ihre vielen Verhaspler und Versprecher („öffentlich-rechtliche Verkehrsmittel“). Im Hintergrund schwang auch die ewige Diskussion um die offenen Fragen in Bezug auf Pechsteins Dopingsperre 2009 mit.

Pechsteins Rede geriet so in den Brennpunkt einer Frage, die bei der CDU gerade über allem schwebt: Wo positioniert sich die bürgerliche Partei in gesellschaftspolitischen Fragen, in einer Zeit, in der die Umfragewerte der rechten AfD in die Höhe schießen?

Pechstein-Rede gerät in einen großen Meinungskampf innerhalb der CDU

„In der Partei gibt es zwei verschiedene Vorstellungen, um die AfD kleinzukriegen“, fasste das Redaktionsnetzwerk Deutschland die Diskussion rund um den CDU-Parteitag soeben zusammen:

„Es gibt das eine Lager, das eine härtere Gangart gegenüber der Regierungskoalition und eine klare Abgrenzung insbesondere zu den Grünen fordert“, schreibt RND; „Die Vertreter des konservativen Kurses dringen darauf, die Themen der AfD zu besetzen, sich in der Sprache stark zugespitzt zu äußern. Sie fordern von der Parteispitze, Kulturkampfthemen wie das Gendern und Transgenderpolitik in den Mittelpunkt zu stellen.“ Auf der anderen Seite stünden die, „die genau darin ein Problem sehen. Sie warnen davor, schrille Töne zu verwenden und zu versuchen, sich Themen von der AfD zurückzuholen“.

Zur Gruppe 1 gehören zum Beispiel der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer und der frühere Gesundheitsminister Jens Spahn, der jüngst erklärte, die von der SPD geführte Ampelkoalition hätte einen „Kulturkampf“ entfacht, den man annehmen müsse. Auf der Seite von Gruppe 2 stehen unter anderem die Ministerpräsidenten Hendrik Wüst (Nordrhein-Westfalen) und Daniel Günther (Schleswig-Holstein), der seine Linie in der Süddeutschen Zeitung wiefolgt auf den Punkt brachte: „Kurs der Mitte, sprachlich sauber bleiben, keine Debatten über das Gendern und andere Nebensächlichkeiten führen - den Leuten halt keinen Scheiß erzählen.“

Die Diskussion bildet auch den Gegensatz zwischen Ex-Kanzlerin Angela Merkel (Gruppe 2) und dem jetzigen Parteivorsitzenden Merz (recht klar Gruppe 1) ab. Sie gewann zuletzt auch an Schärfe durch die Ereignisse bei der gegen das Heizungsgesetz der Ampelkoalition gerichtete Demo im bayerischen Erding, auf der CSU-Ministerpräsident Markus Söder (mal Gruppe 1, mal Gruppe 2) ausgebuht und sein stärker dem Rechtspopulismus zugeneigter Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger von der Regionalpartei Freie Wähler bejubelt.

Merz fand Pechstein „brillant“ - und sieht Uniform als Lappalie

In diesem Kontext wurde nun auch der Umgang mit Pechsteins Auftritt und ihren multiplen Aufregern zu einer Art Gretchenfrage. Und die Antwort von Parteichef Merz fiel klar und bemerkenswert aus.

Merz tat die Diskussion im Gespräch um Pechsteins Auftritt in Uniform und dessen Implikationen hinsichtlich Partei und Staat als nicht beachtenswerte Lappalie und unwichtige Diskussion über „Äußerlichkeiten“ ab. Er sagte Moderator Theo Koll: „Der Auftritt war brillant. Claudia Pechstein hat uns aus ihrer Erfahrung gesagt, wie wichtig Sportvereine und Breitensport sind.“ Ihr Äußeres interessiere ihn nicht: „Es interessiert mich, was jemand zu sagen hat und Claudia Pechstein hat - wie viele andere - uns was zu sagen gehabt. Darauf haben wir geachtet, da haben wir zugehört.“ Und: „Der Inhalt war wirklich interessant und der hat uns auch ein Stück motiviert, in diese Richtung weiter zu arbeiten.“

Zu Pechsteins Äußerungen über Asylpolitik, Gendersternchen und ihr Familienbild sagte Merz nichts und ließ damit offen, ob er auch diese Wortbeitrage „brillant“ und anregend fand. Als Politik- und Medienprofi wird Merz bewusst sein, dass er damit Raum lässt, seine überschwängliche Parteinahme für Pechstein auch so zu lesen.

Die vermeintliche Randnotiz um die fünfmalige Olympiasiegerin hat in der politischen Landschaft einiges in Bewegung versetzt.