Der schwer erschütterte Geheimfavorit

„Island ist für mich ein Geheimfavorit“, hatte der deutsche Bundestrainer Alfred Gislason vor dem Auftakt der Handball-EM gesagt. Eine Einschätzung die nicht von ungefähr kam, denn schließlich verfügt das Team aus Gislasons Heimat über zahlreiche Stars auf zentralen Positionen.

Omar Igni Magnusson, Aron Palmarsson, Gisli Kristjansson, Bjarki Mar Elission, Janus Smarason - sie alle zählen zu den besten Spieler der Welt. Entsprechend groß waren die Hoffnungen, dass der heutige deutsche Gegner in diesem Jahr erstmals seit 2010 wieder eine EM-Medaille holen würde. Inzwischen allerdings ist große Ernüchterung eingetreten.

Island stand vor frühem EM-Aus

Island den eigenen Ansprüchen massiv hinterher, speziell die 25:33-Klatsche gegen Ungarn hat das Selbstverständnis schwer erschüttert. „Wir müssen zugeben, dass wir heute keine Chance hatten“, meinte ein angefressener Nationaltrainer Snorri Gudjonsson hinterher.

Besonders offensiv ist massiv der Wurm drin: Nur 83 Tore gelangen Gudjonssons Team - kein Team in der Hauptrunde erzielte weniger.

Mit etwas mehr Pech hätte Island sogar die Hauptrunde verpasst. Im ersten Gruppenspiel lagen sie 130 Sekunden vor Schluss mit 24:27 gegen Serbien zurück und wirkten wie der sichere Verlierer.

Doch dann übernahm Palmarsson die Verantwortung und brachte sein Team mit zwei Toren wieder auf 26:27 heran. Als sich Petar Djordjic einen haarsträubenden Fehler erlaubte, war es letztlich Sigvaldi Gudjonsson, der fünf Sekunden vor Schluss den umjubelten Ausgleich erzielte.

Island mit Abschlussschwäche von Außen

Der wichtige Punktgewinn rettete die Isländer vor dem Aus und verschaffte Zeit, eine Lösung für ihre offensive Probleme zu finden. „Im Angriff läuft glaube ich der Ball bei uns momentan nicht so gut. Es geht alles über die Mitte“, analysierte Viggo Kristjansson gegenüber SPORT1.

In der Tat war es im Spiel gegen Ungarn sehr auffällig, dass die Außenspieler kaum eine Rolle in der Offensive gespielt haben. Auf der anderen Seite haben sie sich auch nicht mit Ruhm bekleckert. So versenkten Elisson, Gudjonsson und Co. nur 4 von 13 Würfen von den Flügeln - eine unterirdische Quote!

Odinn Rikhardsson, der dreimal nicht den Ball im Tor unterbringen konnte, stand im abschließenden Gruppenspiel nicht im Kader.

Vor Spiel gegen Deutschland: Island-Stars gehen hart mit sich ins Gericht

Doch die Schuld ist nur bei den Außenspielern zu suchen. „Zu viele Spieler haben zu schlecht gespielt“, konstatierte Palmarsson bereits nach dem ersten EM-Auftritt im SPORT1-Interview.

Der Star-Spieler tritt auch selbst zu selten positiv in Erscheinung. Magere acht Tore stehen bisher bei ihm zu Buche. Dabei unterliefen ihm wie seine Teamkollegen bisher „viele technische Anfängerfehler“, wie er der dpa nach der Ungarn-Klatsche erklärte.

„Vielleicht machen wir es dem Gegner zu leicht. Sie lesen zu früh, was wir machen wollen“, erläuterte Kristjansson, der mit acht Buden gegen Ungarn zumindest halbwegs Normalform zeigte.

Sein Trainer hat derweil eine Mängelliste ausgemacht, die auf der Pressekonferenz jedoch nicht komplett offenlegen wollte. Zu denen dürfte auch die Form von Gisli Kristjansson erzählen. Der Regisseur vom SC Magdeburg ist ein Totalausfall bei der Europameisterschaft.

Er hatte erst Mitte Dezember sein Comeback nach einer langwierigen Schulterverletzung gegeben. Zwar bestätigte er gegenüber SPORT1, dass er sich körperlich topfit fühlt, doch er kann noch nicht wieder in Top-Form sein. Drei mickrige Treffer sind weit entfernt von dem, was von einem Mann seiner Klasse eigentlich zu erwarten wäre.

Island: Trainer stellt Charakterfrage

Gänzlich unterschätzen sollte die deutsche Mannschaft die Nordeuropäer allerdings nicht. „Wenn wir zu unserem Spiel finden, können wir jeden schlagen“, schickte Viggo Kristjansson eine Kampfansage an den kommenden Gegner.

Eine Reaktion erwartet auch Gudjonsson. „Es ist eine Charakterfrage gegen Deutschland“, meint der Nationaltrainer und nimmt seine Mannschaft in die Pflicht.

Die hochveranlagte Truppe muss in Köln beweisen, ob Gislasons Geheimfavorit-Prognose doch etwas mehr war als ein großer Irrtum.