Die Stimmung in Deutschland ist so schlecht wie nie, warnen Meinungsforscher – warum wir mehr Optimisten brauchen
Vor einigen Tagen verabredete ich mich mit Freunden. "Aber bring bitte gute Laune mit", baten sie. Nun wäre es mir gar nicht in den Sinn gekommen, schlecht gelaunt bei Freunden aufzutauchen. Erstens aus Höflichkeit und zweitens, weil ich eher ein gut gelaunter, optimistischer Mensch bin. Aber es schien, als wollten sie sichergehen: Bitte keine weitere Dosis der grassierenden Miesepetrigkeit, des Überdrusses an fast allem und der „Geht doch alles den Bach runter"-Haltung. Auch wir redeten dann über die miese Stimmung in Deutschland, den Unmut, die Wut, vom Supermarkt bis in die Feuilletons. So viele Menschen so genervt von so vielem – nicht zuletzt von so vielen genervten Menschen. Eine Abwärtsspirale in die kollektive Depression. Oder sind das nur Anekdoten?
Nein. "Die Verunsicherung, Erschöpfung und Mutlosigkeit sind nicht nur anekdotisch, sondern auch messbar in der Gesellschaft", sagt Janina Mütze, Gründerin des Meinungsforschungsinstituts Civey. Viele Demoskopen sehen in den Umfragedaten sogar ein historisches Stimmungstief – und haben dafür auch Erklärungen.
"Die Stapelkrisen hinterlassen Spuren", sagt Mütze. Corona, Klima, Inflation, Flüchtlingsdruck, Kriege. Die Krisen reihen sich nicht nur aneinander. Sie türmen sich auf – vor den Einzelnen, aber auch vor der Gesellschaft. Umfragen zeigen „eine von multiplen Krisen verunsicherte, aber nicht erschütterte Gesellschaft“, sagt auch Bettina Kohlrausch von der Hans-Böckler-Stiftung. Sie weist damit aber auch auf den Lichtblick eines unerschütterlichen Optimismus hin. Wir kommen darauf noch zurück.
Blicken wir zunächst aber in den Abgrund der Stimmungslage.
Das Institut für Demoskopie Allensbach stellt den Deutschen seit 1963 regelmäßig diese Frage: "Würden Sie sagen, wir leben heute alles in allem in einer glücklichen Zeit, oder haben Sie das Gefühlt, dass wir ziemlich schwierige Zeiten durchmachen?" Aktuell empfinden nur 16 Prozent die Zeitläufte als „glücklich“, aber 72 Prozent als „schwierig“. Dies ist ein Absturz auf den schlechtesten Wert, der je gemessen wurde. Noch vor einem Jahr hielten sich positive und negative Aussagen die Waage.
Noch länger fragt Allensbach, ob die Deutschen mit "Hoffnung" auf das neue Jahr schauen. Aktuell sagen das von sich nur 28 Prozent. Das ist der niedrigste Wert seit 1950! Was für ein Vergleich. Damals lag Deutschland materiell in Trümmern und moralisch am Boden, und der Koreakrieg schürte die Angst vor einem Dritten Weltkrieg. Auf diesen Tiefpunkt ist die Stimmung gesunken. Apocalypse now. Im Ernst?
Pessimisten weisen den Weg, aber wohin?
Eine zweite Studie, der BAT-Stiftung für Zukunftsfragen, zeigt das gleiche, düstere Bild. Das Verhältnis der "angstvollen" zu den „zuversichtlichen“ Deutschen ist gekippt. 2014 war noch die große Mehrheit von 69 Prozent zuversichtlich. Heute geben die Pessimisten den Ton an: 77 Prozent rechnen mit mehr wirtschaftlichen Problemen. 76 Prozent erwarten, dass die Gesellschaft auseinander driftet. 87 Prozent gehen davon aus, dass die Politik an Zustimmung verliert.
Für eine offene Demokratie, die ihre Kraft und ihre Legitimation aus dem gesellschaftlichen Zusammenhalt und dem Vertrauen in ihre Repräsentanten schöpft, sind das katastrophale Werte.
Ein drittes Beispiel, Civey fragt seit 2017: "Wenn Sie an die Zukunft denken, sind sie da optimistisch oder pessimistisch?" Bis Ende 2021 waren mal die Optimisten, mal die Pessimisten knapp vorn. Doch seit Anfang 2022, seit Russlands Angriff auf die Ukraine, Energiekrise und Inflation kippte die Stimmung. Mittlerweile überwiegen die Pessimisten mit 60 zu 22 Prozent. Auch das gab es noch nie.
"Die Zuversicht in Deutschland hat klar abgenommen. Das Gefühl der Unsicherheit und gleichzeitig der Ohnmacht wiederum hat zugenommen", sagt Janina Mütze. „Ein Grund dafür ist das sinkende Vertrauen, dass es jemanden gibt, der die Herausforderungen für einen selbst lösen könnte“. Dahinter stehe das schwindende Vertrauen in die Politik. Das Misstrauen reiche aber tiefer. Mütze: „Auch das Vertrauen, dass wir es als Gesellschaft schaffen, Krisen und Herausforderungen gemeinsam zu meistern, schwindet.“
Politikverdrossenheit auf historischem Hoch
„Vielen Politikern wird mangelnde Kompetenz und Transparenz vorgeworfen und ihnen wird nachgesagt, dass ihnen effektive Lösungen für drängende Probleme fehlen“, urteilt auch das Team der BAT-Studie. Die zunehmende Polarisierung zerstöre Vertrauen in das politische System, warnt Studienleiter Ulrich Reinhardt: "Die Skepsis gegenüber der politischen Klasse stellt eine zentrale Zukunftsherausforderung dar". Es drohe eine „weitere Radikalisierung, die am Ende die Demokratie gefährdet“.
Auch in der Böckler-Umfrage äußerten 60 Prozent aller Befragten geringes oder kein Vertrauen in die Regierung. „Bei einer relevanten Gruppe besteht ein erheblicher Zuspruch zu antidemokratischen Kräften.“ Pessimisten haben weniger Hoffnung, das macht sie anfälliger für radikale Vorschläge.
Deutschland ist Europameister – im Unzufriedensein
Auch im internationalen Vergleich ist Deutschland ein Land des Trübsals. Das zeigt die „Quality of Life“-Umfrage der EU, in der auch nach der Zufriedenheit mit den allgemeinen Lebensumständen gefragt wurde. Das Ergebnis: Nur in Bulgarien ist die Zufriedenheit noch geringer als in Deutschland.
Oder der jüngste World Happiness Report des Meinungsforschungsinstitutes Gallup. Deutschland fiel um acht Plätze zurück auf Platz 24. Auffallend ist, dass besonders die Jüngeren sich als weniger glücklich bezeichnen. Bei den Unter-30-Jährigen liegt Deutschland nur auf Rang 47.
Dazu passen die Ergebnisse auf diese Civey-Frage: "Würden Sie lieber in die Zukunft oder in die Vergangenheit reisen?". 42 Prozent der Menschen zieht es in die Vergangenheit, nur 22 Prozent in die Zukunft. „Zurück in die Zukunft“, das war einmal. Heute lockt der Zeitgeist: „Vorwärts in die Vergangenheit" - vor allem die Jüngeren, die gar nicht wissen können, wie es dort war.
Mütze: „Schwermut ist bei vielen Jüngeren ausgeprägter als bei Älteren. Das ist nicht nur ein deutsches Phänomen, sondern eines, dass im World Happiness Report auch für andere Länder sichtbar geworden ist. Es sind eher die 18- bis 29-Jährigen, die sich in die Vergangenheit zurückwünschen.“
Die „German Angst“ macht sich selbstständig
Nun ist die Tatsache nicht neu, dass Deutsche fern die Vergangenheit verklären, die Zukunft aber fürchten. Der Begriff „German Angst“ hat es sogar in den Englisch-Wortschatz geschafft. Doch auch hier gibt es Veränderungen. Über Jahrzehnte entwickelte sich Gefühl wirtschaftlicher Sicherheit in Deutschland und den USA parallel. Doch diese Muster sind verschwunden, stellt Robin Winkler fest, der Chefvolkswirt Deutschland der Deutschen Bank. Die German Angst macht sich selbstständig.
Die Verunsicherung bildet sich daher auch in vielen Stimmungsindikatoren der Wirtschaft hab. Der Ifo-Index für das Geschäftsklima? Im Keller. Das Konsumklima? Mies. Obwohl die Einkommen wieder stärker steigen als die Preise, halten die Deutschen ihr Geld lieber zusammen. Die Sparquote steigt, nicht der Konsum.
„Die Abkopplung von den USA trägt unserer Meinung nach zu der derzeitigen düsteren Stimmung bei“, schreibt Winkler. Die „Angst – made in Germany“ dürfte übertrieben sein, findet der Ökonom, der lange in London gelebt hat. „Deutschland sollte doch in der Lage sein, diese Probleme gemeinsam mit seinen europäischen Partnern zu lösen.“
„Hattet ihr Glück? Nein, wir hatten kein Pech!“
Womit wir beim nötigen Gegengewicht der Optimisten wären. Aber was unterscheidet Pessimisten eigentlich von Optimisten. Meine Lieblingsantwort darauf kommt von Patrick Allgaier und Gwendolin Weisser, die auf eine für moderne Menschen abenteuerlich einfache Art jahrelang um die Welt reisten. Mit Vertrauen in die Menschen, denen sie begegneten. Alles ging gut. Auf die Frage: "Hattet ihr einfach Glück?" antworten Sie: „Ich würde sagen, wir hatten einfach kein Pech. Das ist ein großer Unterschied"
Die Zuversicht der Optimisten speist sich aus der Überzeugung, dass Zukunft offen und gestaltbar ist. Es lohnt sich daher, aktiv zu werden. Lösungen sind möglich. Optimisten gründen Unternehmen, stürzen sich in Forschung und Entwicklung, werden politisch konstruktiv aktiv.
Sie brauchen dafür etwas, dass über rein rationale Argumente hinausgeht. In guten Zeiten ist Zuversicht billig zu haben. Wertvoll wird sie in ungemütlicher Zeit. „Zuversicht ist nicht das beruhigende Gefühl, das sich im Windschatten günstiger Prognosen einstellt, sondern ein Charaktermuskel, der trainiert werden muss.", schreibt Thea Dorn in ihrem Essay "Eine Frage der Haltung" in der Zeit.
Es gibt immer gute Gründe, pessimistisch zu sein. Und es ist ja offenkundig, dass in jüngster Zeit viele hinzugekommen sind. Pessimisten neigen aber dazu, negative Entwicklungen für dauerhaft und bleibend zu halten. Optimisten wissen, dass sie überwindbar sind.
Dennoch. Aus einer nüchternen Analyse der Gegenwart lasse sich momentan kaum ein Maß an Zuversicht gewinnen, das für einen aktiven Optimismus ausreiche, schreibt Dorn. Daher sei es Zeit für einen radikalen Gedanken. "Rational begründete Zuversicht allein reicht niemals. Grundsätzliche, robuste Zuversicht ist letztlich immer unbegründet, sie ist eine Frage der Haltung, der Einstellung, des Willens."
Auch mein rationaler Optimismus ist schwer angeschlagen. Spätestens seit dem furchtbaren Jahr 2016, als der Brexit und Donald Trumps Wahlsieg gezeigt haben, dass es vor dem Ansturm misanthropischer Populisten keine Selbstverständlichkeiten mehr gibt. Zu einem Pessimisten macht mich das nicht. Aber aufmerksamer und aktiver.
Vom Glück in schwieriger Zeit
Noch einmal zurück zu der Allensbach-Umfrage. Sie stand unter der Überschrift "Glück in schwierigen Zeiten". Dem pessimistischen Blick auf Zeitläufte standen bemerkenswert positive Aussagen zum persönlichen Glück gegenüber. „Dass viele das Gefühl haben, in einer krisenbelasteten Zeit zu leben, bedeutet nicht, dass die Menschen allgemein besonders unglücklich sind“, schrieb Allensbach-Forscher Thomas Petersen dazu in der "FAZ". „Die allgemeine Krisenstimmung wirkt sich bemerkenswert wenig auf das Lebensgefühl im Alltag aus.“
Positive Einschätzungen ziehen sich durch wichtige Bereiche, wie Familie, Freunde, den Zusammenhalt in der Gesellschaft bis zu der Frage, ob man den Menschen allgemein trauen könne. Überall zeigen die Antworten keine negativen Ausschläge. Als besonders eindrucksvoll hebt Petersen die Antwort auf diese Frage hervor: „Wenn Sie in eine schwierige Lage kommen würden: Gibt es für Sie einen Menschen, der Ihnen dann helfen würde?“ 96 Prozent antworteten „Ja“. 1951, als die Frage zum ersten Mal gestellt wurde, waren es nur 63 Prozent.
In seinem lesenswerten Befund schließt Petersen: "Man kann an der gegenwärtigen Gesellschaft sicherlich vieles mit Recht beklagen, aber nicht, dass sie in den letzten Jahrzehnten oder gar in jüngster Zeit unter dem Eindruck der aktuellen Krisen menschlich kälter oder rücksichtsloser geworden wäre".
Vorbild und Führung: Optimisten, zeigt Euch!
Was also könnte auch der Gesellschaft aus dem Stimmungstief helfen? Mütze gibt eine zunächst überraschende Antwort: „Führung hilft“. Dabei gehe es nicht nur um politische Führung. „Auch die Unternehmen, gerade Führungskräfte können viel tun, indem sie Veränderung diskutieren und als Chance vorleben. Was fehlt, ist ein gemeinsames Zukunftsbild, das motiviert und den Sinn von Veränderung greifbar macht.”
Anders gewendet: Optimisten, zeigt Euch! Mischt Euch ein. Ihr werdet gebraucht.
Und Optimismus lohnt sich übrigens doppelt. Wenn ihr euren Zuversichtsmuskel trainiert, winkt Euch auch persönlich eine Belohnung. Optimisten leben länger. Das haben Wissenschaftler der Harvard Medical School in umfangreichen Studien herausgefunden.
Zum guten Schluss daher noch einmal Thea Dorn: Wenn die "herrschende Gemütsverfassung zwischen Erschöpfung und Panik schwankt", brauche es als Gegengewicht „Mut zur unbegründeten Zuversicht".