"Tausend Nadelstiche", Mobbing und Attacken: Wenn sich der "Hass gegen Queer" in Gewalt entlädt
Für die Betroffenen ist es Überwindung und Empowerment zugleich: In der ARD-Doku "Hass gegen Queer" erzählen queere Personen ihre eigenen Geschichten: Sie handeln von brutaler psychischer und physischer Gewalt - und gehen unter die Haut.
"Diese tausend Nadelstiche machen mit Menschen was", weiß Grünen-Politikerin Tessa Ganserer. Und die Bundestagsabgeordnete weiß, wovon sie spricht, denn sie ist trans. Regelmäßig sieht sich Ganserer mit transfeindlicher Hetze in den Medien oder mit Hasskampagnen im Internet konfrontiert. "In unserer Gesellschaft steht sozusagen in der Nahrungskette ganz oben der weiße heterosexuelle cis Mann und alles andere, was davon abweicht, ist automatisch weniger wert", erklärt die Politikerin zu den Anfeindungen. Sie sind keine Ausnahme, queerfeindliche Vorfälle nehmen in ganz Westeuropa zu.
Ganserer ist Protagonistin im teils erschütternden ARD-Dokumentarfilm "Hass gegen Queer" (aktuell in der ARD-Mediathek) von Tristan Ferland Milewski. Hier bekommen die Betroffenen aus der LGBTQIA+-Community eine Stimme, erzählen schonungslos und offen von ihren traumatischen Erlebnissen. Die Doku offenbart, wie tief diskriminierendes Denken und Handeln noch in der Gesellschaft verankert sind. Wie schwer es den Betroffenen fällt, die eigene Geschichte zu erzählen, ist spürbar, doch Regisseur Milewski weiß, es ist auch "eine Form von Empowerment".
Jede Person hat schockierende Gewalt erlebt, manche physisch, manche psychisch. "Es ist mir wichtig, zu zeigen, dass die sichtbare Gewalt nur die Spitze des Eisbergs ist", betont der Regisseur. Die Bilder der Opfer nach den Attacken verfehlen ihre Schockwirkung nicht, doch es sind in erster Linie die schonungslosen Schilderungen der Betroffenen, die wirklich unter die Haut gehen.
Sechs Täter, ein Opfer, keine Helfer
Die Geschichten sind schwer verdaulich - und genau deshalb so eindrücklich. Unter anderem erzählt das deutsch-französische Pärchen Linda und Charlotte, wie sie im Beisein ihrer kleinen Tochter Louisa, von einem Mann attackiert wurden, der Charlotte ins Gesicht schlug. Der Franzose Arnaud wurde mitten auf der Straße in Paris von sechs Jugendlichen überfallen, das Bild seines aufgequollenen Gesichts ging auf Social Media viral. So viele mögliche Helfer, kein einziger, der wirklich half. Besonders betroffen macht Arnaud, dass die Teenager keinerlei Angst vor den Folgen eines tätlichen Angriffs hatten, obwohl sie sich mitten in Frankreichs Hauptstadt befanden: "In deren Köpfen heißt das, dass wir Angst haben sollen."
Mit einem ganz anderen Fall von Homophobie hatte der junge Max zu kämpfen: Gegen seinen Willen outete ihn ein Online-Stalker als schwul. Er hatte mit zahlreichen Fake-Accounts zu kämpfen, an seiner Schule hingen Bildern samt der Info, er sei homosexuell. Dann erhielt die Schule ein Paket mit Trauerkranz für Max, es folgte sogar eine Todesanzeige auf Facebook. Das schlimmste für den jungen Mann: Es war nicht auszuschließen, dass der Täter aus seinem engsten Umfeld stammt. Max hat Vertrauensprobleme entwickelt.
"Ich dreh dich um"
Die lesbische Marilén erinnert sich zurück an eine harte Kindheit, die von Mobbing geprägt wurde. Ihre Mutter musste sie zur Schule fahren, der Weg zu Fuß wäre zu gefährlich gewesen. Auch in ihrem späteren Leben blieb latente wie offene Homophobie stets präsent. Ob es Fragen danach sind, wer den "männlichen Part" in ihrem Sexualleben einnehme ("Ich frage heterosexuelle Paare auch nicht, wie sie Sex haben."), oder ihr Fußballtrainer, der ganz offen aussprach, dass ihn eine Lesbe mit rumänischen Wurzeln anmache. Der Standardspruch, den sie sich von Männern anhören musste? "Ich dreh dich um."
Dabei wird das brüchige Argument, Angehörige der LGBTQ-Bewegung hätten doch längst die gleichen Rechte und Veranstaltungen wie der Christopher Street Day (CSD) seien nicht mehr nötig, einmal mehr widerlegt. Zwar findet auch trans Frau Janis aus Paris: Wir leben in einer Welt, die noch nie so progressiv war, "aber ich glaube, dass das viele Leute dazu bringt, Dinge wieder zurückholen zu wollen, die unsere Gesellschaft langsam zerstören". Populisten verweigern sich dem Konsens und machen einst Unsagbares wieder sagbar.
Dragqueen Barbie Breakout: Ein Teil schämt sich immer noch
"Nur, weil ihr jetzt glaubt, dass im Fernsehen irgendwelche Homosexuellen herumlaufen und Hauptabendprogramme moderieren, heißt das nicht, dass wir nicht trotzdem verprügelt werden", fasst die Berliner Dragqueen Miss Ivanka T. die Realität derjenigen zusammen, die von einer vermeintlichen geschlechtlichen oder sexuellen Norm abweichen. Auch die vor Frau und Kind attackierte Charlotte erklärt, es würde keinen Sinn machen, zu versuchen, wie die anderen zu sein: "Auch wenn ich so bin wie alle anderen, kriege ich trotzdem aufs Maul." Es sind Sätze wie diese, die im Gedächtnis bleiben.
Bei allem Empowerment, bei aller Stärke der Protagonisten, wird in der Doku auch bewusst, dass sie nicht nur Diskriminierung durch die Gesellschaft erfahren, sondern teils auch selbst diskriminierende Strukturen internalisiert haben. Das macht es schwerer, sich selbst anzunehmen. "Ich habe immer noch ein' Teil, der sich schämt, dafür, dass ich bin, was ich bin", gesteht die Dragqueen Barbie Breakout.
Sich genau für das, was man ist, feiern zu lassen: Bunt, laut, ausdrucksstark. Darum geht es auf Veranstaltungen der sogenannten Ballroom-Szene. Sie biettet Schutzräume für Menschen, die in der Gesellschaft, aber auch in der Community selbst, mit Diskriminierung kämpfen: insbesondere Nicht-weiße und trans Personen finden hier starken Zusammenhalt.