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Vergessene Helden: Günter Stüttgen sorgte für das "Wunder vom Hürtgenwald"

US-amerikanische Soldaten liegen mit einem Maschinengewehr während des Zweiten Weltkrieges in den Straßen von Aachen in Deckung. (Bild: ddp)
US-amerikanische Soldaten liegen mit einem Maschinengewehr während des Zweiten Weltkrieges in den Straßen von Aachen in Deckung. (Bild: ddp)

In Deutschland kennt ihn fast niemand, doch in den USA ist Günter Stüttgen ein Held. Weil er in einer der grauenhaftesten Schlachten des Zweiten Weltkriegs nicht auf die Nationalität schaute, sondern half, wem geholfen werden musste.

Für amerikanische Militärexperten verkörpert die Schlacht im Hürtgenwald so etwas wie Vietnam – in kleinerem Ausmaß zwar, aber hinsichtlich der Erfahrung katastrophalen militärischen Versagens durchaus ebenbürtig. Im November 1944 rücken die aus Belgien kommenden amerikanischen Truppen immer weiter in Richtung Rhein vor. In der Nähe der Städte Aachen und Köln aber kommt die Offensive nicht weiter – im Wald des Städtchens Hürtgenwald warten die deutschen Soldaten in Bunkern und ausgebauten Stellungen auf den Feind, der völlig unerfahren im Gefecht in unbekannten Forstgebieten ist. Ein unerbittlicher Kampf Mann gegen Mann: Mal rückt die Front ein paar hundert Meter weiter vor, dann wieder zurück, hin und her, hin und her. Jeden Tag gibt es auf beiden Seiten Hunderte Verletzte und Tote. Insgesamt kommen hier 55.000 Amerikaner zu Tode, auf deutscher Seite sind es 12.000.

Ein 25-jähriger Arzt riskiert sein Leben, um dem Feind zu helfen

Keine Schlacht zwischen Deutschen und Amerikanern war verheerender als diese, und doch brachte sie etwas hervor, was heute als „Wunder vom Hürtgenwald“ bezeichnet wird. Der Mann, der dahintersteht, ist der damals gerade einmal 25-jährige Arzt Günter Stüttgen. Er kümmert sich um die Verletzten und Verstümmelten, amputiert, operiert, holt die Soldaten selbst vom umkämpften Feld und bringt sie in den Sanitätsbunker. An manchen Tagen sind es 200. Als erstmals kein deutscher, sondern ein amerikanischer Soldat vor ihm auf der Liege liegt und um sein Leben kämpft, tut Stüttgen, was ein Arzt seiner Meinung nach nur tun kann – er behandelt den Feind genauso, wie er es mit einem Deutschen machen würde.

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Hätten die falschen Leute davon Wind bekommen, hätten sie ihn zum Tode verurteilt. Und trotzdem: Gegenüber der „Welt“ sagte der Mediziner einmal, er hätte das Rote Kreuz auf Brust, Arm und Helm „einfach ernst genommen“. Denn eines verband hier alle: „Wir hatten so die Schnauze voll, auf beiden Seiten.“ Und so kommt es am 7. November zu einer wahrhaft außergewöhnlichen Situation: In den Reihen der Amerikaner hatten sich Gerüchte herumgesprochen, wonach die Deutschen keine Sanitäts-Trupps angreifen, die Verwundete aus der Kampfzone bergen wollen. Drei Mann wagen sich vor und begegnen prompt einem deutschen Posten. Als sie ihm eine Packung Zigaretten hinhalten, greift er zu – und das unausgesprochene Bündnis der Kriegsgegner steht.

Grabsteine für tote Soldaten des Zweiten Weltkrieges stehen in der Nähe von Vossenack in der Eifel auf einem Soldatenfriedhof. (Bild: ddp)
Grabsteine für tote Soldaten des Zweiten Weltkrieges stehen in der Nähe von Vossenack in der Eifel auf einem Soldatenfriedhof. (Bild: ddp)

Stüttgen geht noch einen Schritt weiter. Zusammen mit einem Sanitäter sucht er einen Einheitsführer des US-Militärs auf und bringt ihn in den deutschen Gefechtsstand. In den nächsten Tagen gibt es immer wieder von ihm initiierte Waffenstillstände, die mehrere Stunden andauern. Deutsche holen verletzte Amerikaner aus dem Feld und bringen sie in deren Etappe, die Amerikaner machen dasselbe andersherum. Und jeder versorgt den anderen mit dem, was er am dringendsten braucht: Die Deutschen die hungrigen Amerikaner mit Kommissbrot, die Amerikaner die Deutschen mit Zigaretten und Verbandsmaterial. „Es war massive Fraternisierung im gemeinsamen unabwendbaren Schicksal“, beschrieb Stüttgen diese Situation einst. Und sagte weiter: „Wir hatten Respekt voreinander. Respekt, den nur Soldaten voreinander haben können, die den Schrecken des Krieges kennen.“

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Kurz vor Kriegsende fiel Günter Stüttgen dann doch noch in Ungnade. Mittlerweile anderswo an der Front eingesetzt, überließ er den anrückenden Alliierten kampflos sein Lazarett. Die Nazis verurteilten ihn daraufhin in Abwesenheit zum Tode. Gekriegt haben sie ihn bis Kriegsende aber nicht. Nach dem Krieg setzte Stüttgen seine Karriere fort, wurde Facharzt für Dermatologie und Venerologie und leitete später die Universitäts-Hautklinik und Poliklinik der Freien Universität in Berlin. Über sein Heldentum, das er selbst nie so genannt hätte, behielt er Stillschweigen. So lange jedenfalls, bis sich amerikanische Militärforscher auf die Suche nach dem „German Doctor“ machten, von dem so viele GIs berichtet hatten.

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Sie fanden ihn und ehrten ihn im Jahre 1996 während eines Festakts im Capitol in Harrisburg. Für seinen Akt der Humanität bekam er auch eine Ehrenurkunde und ein Gemälde mit dem Namen „A Time for Healing“, das im Museum der Nationalgarde ausgestellt wurde. Für die Amerikaner war er ein Held – in Deutschland dagegen kennt fast niemand die Geschichte des 25-jährigen Arztes, der hunderten deutschen und amerikanischen Soldaten das Leben rettete. Günter Stüttgen starb 2003 in Berlin.

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