Vielleicht brauchen wir doch eine Wehrpflicht

Bundeswehrsoldaten im Dezember 2023 bei einer Maschine am Standort Wunstorf (Bild: REUTERS/Lisi Niesner)
Bundeswehrsoldaten im Dezember 2023 bei einer Maschine am Standort Wunstorf. (Bild: REUTERS/Lisi Niesner)

Ein Kommentar von Jan Rübel

Im Jahr 2008 brachte Verteidigungschef Karl-Theodor zu Guttenberg ganze Jahrgänge zum Jubeln. Dies gelang ihm nicht durch die Vorlage einer wissenschaftlichen Abhandlung, die nicht zusammenkopiert war – sondern durch die Aussetzung der Wehrpflicht. Endlich war der ungeliebte Zwang Geschichte. Doch wie heißt es so oft: Man sieht sich in der Geschichte nicht selten zweimal.

Damals schien der Schritt folgerichtig. Immer weniger junge Männer wurden "gezogen", die Bundeswehr veränderte sich: weg von Streitkräften, die in der Fläche gesehen ein ganzes Land in theoretisch geübten Feldschlachten verteidigen können sollten und hin zu einer "Eingreiftruppe", die im Verbund mit anderen auch weit entfernt zum Einsatz kam. Unsere Freiheit, so hieß es, werde am Hindukusch verteidigt. Das stimmte nur halb, und vor allem geriet diese angebliche Weisheit in Afghanistan zum Rohrkrepierer, wofür die Soldaten weniger etwas konnten, die sie entsendenden Politiker aber durchaus viel.

Nun indes ist einiges anders. In Europa herrscht wieder ein Krieg. Mit reichlich Phantasie lässt sich dieser wegdenken und in ein Mantra des "Das ist nicht mein…" verwandeln. Aber nur für kurze Traumsequenzen. Und spätestens der starke Bedarf der angegriffenen ukrainischen Streitkräfte an Waffen und Munition offenbarte, was ein Land aufzubringen hat, wenn es sich verteidigen will. Die Bundeswehr geriet für Deutschland recht klein.

Infografik: Diese NATO-Länder haben die größte Streitkraft | Statista
Infografik: Diese NATO-Länder haben die größte Streitkraft | Statista

Das Konzept der "Berufsarmee" scheint nicht aufzugehen. Zu wenige wollen in die olivgrünen Uniformen schlüpfen. Der Bundeswehr jedenfalls fehlt es an Personal, neben dem Mangel an funktionierendem Gerät. Sicherlich bräuchte man nicht jeweils einen ganzen Jahrgang, eher einen Bruchteil dessen; aber backen geht natürlich noch nicht, nicht einmal mit ChatGPT. Was also tun?

Pistorius prescht vor

Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) jedenfalls hat sein Ressort angewiesen, ein Arbeitspapier dazu zu entwerfen. Er will eine Richtungsentscheidung vorbereiten – obwohl FDP und auch Grüne prinzipiell dagegen sein werden. Es ist ja auch ein Eingriff in die Freiheit. Einer, der gerechtfertigt ist?

Ich habe gut reden, mich würde ja keiner mehr ziehen. Und früher, als mich die Wehrpflicht rief, fand ich das unglaublich blöd. Was erlaubte sich der Staat, mir damals einen Dienst aufzudrücken? Zur Bundeswehr wollte ich nicht, leistete Zivildienst. Zuerst sollten es 24 Monate sein, dann 20 – schließlich fiel die Mauer und ab 15 sollte dann Schluss sein; weil meine Dienststelle auf die Schnelle keinen Nachfolger fand, arbeitete ich dann mit formellem Arbeitsvertrag eine Weile weiter. Der Job gefiel mir sehr, ich lernte viel. Gegen die Pflicht war ich trotzdem. Warum sollte sich das nun geändert haben?

Hat es aber. Da ist zum einen die Einsicht, dass eine Demokratie so etwas mit Waffen, die auch funktionieren, doch tatsächlich braucht. Wir haben uns ja nicht Nachbarn wie Russland ausgesucht, dessen Bürger sich von einem Geheimdienstler regieren lassen und der neben der Sprache der Konspiration und Manipulation nur noch jene der Gewalt versteht. Und für die funktionierende Waffen braucht man jemanden, der sie bedient.

Mein Erweckungserlebnis hatte ich im vergangenen Juni in Litauen. Damals recherchierte ich für eine Reportage über junge Bundeswehrsoldaten unweit Russlands, sie waren Teil eines Nato-Verbundes, der die Ostgrenze absichert. Freimütig erzählten mir die Männer, eine Schützenpanzerbesatzung, wie natürlich sie eine Wehrpflicht fänden. Es sei doch normal, etwas fürs Land zu tun. Das könne alles Mögliche sein, nicht nur das Tragen eines Gewehrs. Einer brachte es auf den Punkt: Steuern zahlen wir doch auch. Dieser Einfachheit konnte ich nichts entgegensetzen. Meine frühere Überzeugung zerbrach.

Ein einendes Band

Denn es ist doch so, dass sich auch unabhängig von einer militärischen Bedrohungslage, die sich einstellen kann, das Land verändert. Wir vereinzeln immer mehr. Die Digitalisierung erobert neue Welten, auch welche des Zusammenhalts, aber im Dreidimensionalen wird die Luft dünner. Die Individualisierung schreitet voran. Das ist nicht nur schlecht, wirklich nicht. Aber etwas fehlt. Die Solidarität, das gemeinsame sich Aushelfen – das nimmt ab.

Und hier könnte eine Wehrpflicht, verbunden mit einem allgemeinen Zwangsdienst, helfen. Es würden verbindende Elemente geschaffen werden, quer durch die Gesellschaft. Infrastrukturelle Mängel könnten wenigstens personell angegangen werden. Man opfert ein paar Monate, um für Andere etwas zu machen. Das ist, was wir in diesen Zeiten gut gebrauchen könnten.