"Ich war noch nie im Urlaub": Erschütternde ZDF-Reportage über Kinder aus armen Familien

Die Schwestern Angie (links) und Luisa leben mit ihrer Mutter in einer Dreizimmerwohnung in Neu-Hohenschönhausen in Berlin. Leisten können sie sich das nur mit Hilfe des Sozialamtes. (Bild: ZDF/Jens Gyarmaty)
Die Schwestern Angie (links) und Luisa leben mit ihrer Mutter in einer Dreizimmerwohnung in Neu-Hohenschönhausen in Berlin. Leisten können sie sich das nur mit Hilfe des Sozialamtes. (Bild: ZDF/Jens Gyarmaty)

Laut Studie ist ein Viertel der Kinder und Jugendlichen hierzulande von Armut bedroht. Eine neue "37°"-Reportage im ZDF hat Betroffene ein Jahr lang in ihrem Alltag begleitet. Was sind ihre Hoffnungen, was ihre Ängste?

Silvana lebt mit ihren Töchtern Luisa (16) und Angie (18), unterstützt vom Sozialamt, in einer Dreizimmerwohnung in Berlin. "In manchen Momenten fühle ich mich als Außenseiter", sagt Luisa. Etwa wenn Freundinnen von ihren Reisen erzählen. Dann denke sie nur: "Okay, ich war noch nie im Urlaub." Damit ist Luisa nicht alleine. Laut Studie sind ein Viertel aller Kinder und Jugendlichen hierzulande von Armut bedroht. Oft leben sie mit einem alleinerziehenden Elternteil, Kinder aus Familien ohne oder mit niedrigem Bildungsabschluss sind häufiger betroffen. Beides trifft auch auf die anderen Protagonisten der sehenswerten "37°"-Reportage "Vererbte Armut - Kindheit mit wenig Geld" zu. Der Beitrag wurde am Dienstagabend im ZDF ausgestrahlt und ist nun auch in der Mediathek zu finden.

Das Kamerateam begleitet Silvana und ihre Töchter zu einer Wohnungslosenunterkunft, in der sie früher vier Jahre lang lebten. Unschöne Erinnerungen werden wach. "Aber es hat geholfen", sagt Silvana sichtlich bewegt. "So mussten wir nicht auf der Straße sein", als sie damals, ohne Ausbildung, verschuldet und frisch getrennt, mit den Kindern nach Berlin kam.

Sie habe die Mädchen oft ins Kinder- und Jugendzentrum "Die Arche" geschickt, um sie von ihrer Wohnsituation mit "Junkies, Alkies und nackten Männern auf dem Flur" fernzuhalten. Luisa sagt, dass sie dort nie wieder landen möchte, sie wisse auch wie: "Ich muss mich in der Schule ranhalten." Dass das leichter gesagt als getan ist, zeigt sich im Lauf der über ein Jahr hinweg gedrehten Reportage. Am Ende droht Luisa den Hauptschulabschluss nicht zu schaffen: "Manchmal denke ich, wie wäre es, wenn mein Leben nicht so stressig wäre, was das Geld angeht. Es ist viel zu stressig, um sich auf irgendetwas zu fokussieren."

Ihre Schwester Angie erzählt, dass sie von ihrer Mutter gelernt habe, mit Geld umzugehen. Penibel sichten sie Angebote, ehe sie auf einen Einkaufsmarathon durch verschiedene Läden gehen, um 20 Euro im Monat zu sparen. Zu Beginn des Films möchte Angie noch ihren Realschulabschluss machen und Mechatronikerin werden, später wird sie auf Kosmetikerin umschwenken. Doch die Kosmetikschule kostet Geld, zu viel für Mutter Silvana. Ist der Armutsspirale zu entkommen?

Hector lebt mit seiner Familie in einem sozialen Brennpunkt in Duisburg. Die Geldsorgen seiner Mutter muss der Zwölfjährige mittragen. Er träumt davon, Fußballprofi zu werden.    (Bild: ZDF/Patrick Waldmann)
Hector lebt mit seiner Familie in einem sozialen Brennpunkt in Duisburg. Die Geldsorgen seiner Mutter muss der Zwölfjährige mittragen. Er träumt davon, Fußballprofi zu werden. (Bild: ZDF/Patrick Waldmann)

Kleine Kinder mit großen Sorgen

Ähnlich ergeht es dem achtjährigen Davin aus Duisburg. Er lebt mit seiner alleinerziehenden Mutter Silja und den kleinen Geschwistern in einer städtischen Wohnung. Silja arbeitet ganztags in der Gastronomie, bei einem Verdienst von 1.500 Euro netto. Es tue ihr weh, den Kindern Dinge verwehren zu müssen, eine Pizza zu bestellen etwa. Davin möchte nicht, dass seine Mitschüler davon erfahren: "Ich denke immer, dass die mich auslachen oder nicht mehr meine Freunde werden."

Als Davin in der Schule eine körperliche Auseinandersetzung hat und den Platz in der Ganztagsbetreuung verliert, gibt sich Silja die Schuld, Davins Verhalten sei ein "Hilfeschrei". Da sie ihren Sohn nun selbst betreuen muss, verliert sie ihren Job. "Die muss schnell neue Arbeit suchen, sonst bekommt sie kein Geld mehr, und dann wissen wir nicht, was wir machen, weil dann können wir auch nicht die Miete bezahlen", bangt ihr erst achtjähriger Sohn in einer der erschütterndsten Szenen der "37°"-Reportage.

Auch der zwölfjährige Hector sollte sich noch nicht mit Geldsorgen beschäftigen müssen, und doch bestimmen sie auch sein Leben. Der fußballbegeisterte Junge ist glücklich, als er in einen Verein aufgenommen wird. Doch er muss vorerst mit löchrigen Schuhen spielen, neue kann sich Mutter Mary nicht leisten, sie leben von Bürgergeld.

2016 kam die Familie aus Nigeria, sie wohnt ebenfalls in Duisburg. Seit sie ihren Mann wegen seiner Aggressionen verließ, ist Mary alleinerziehend. Sie möchte Deutsch lernen, eine Ausbildung machen, Geld verdienen. "I want to see them happy", sagt sie über ihre Kinder. Doch auch hier gestaltet sich die Realisierung des Plans vom Glück schwierig, wie der Film zeigt. Noch ist es Hector, der für Mary dolmetscht, Briefe übersetzt und ihre Last mitträgt. Dieser Rollentausch, diese Verantwortung in diesem jungen Alter, das sei einfach nicht richtig, beklagt die Diplompädagogin Shabnam Shariatpanahi. Eine "37°"-Reportage, die unter die Haut geht und gleichzeitig wütend, frustriert und tief betroffen macht.

Die 16-Jährige Luisa (rechts) und ihre zwei Jahre ältere Schwester Angie leben mit Mutter Silvana in Berlin. Schon ihr ganze Leben lang fehlt das Geld an allen Enden. (Bild: ZDF/Jens Gyarmaty)
Die 16-Jährige Luisa (rechts) und ihre zwei Jahre ältere Schwester Angie leben mit Mutter Silvana in Berlin. Schon ihr ganze Leben lang fehlt das Geld an allen Enden. (Bild: ZDF/Jens Gyarmaty)
Hector (rechts) ist zwölf Jahre alt. 2016 kam er mit seiner Familie aus Nigeria. In einem sozialen Brennpunkt von Duisburg lebt sie von Bürgergeld.  (Bild: ZDF/Patrick Waldmann)
Hector (rechts) ist zwölf Jahre alt. 2016 kam er mit seiner Familie aus Nigeria. In einem sozialen Brennpunkt von Duisburg lebt sie von Bürgergeld. (Bild: ZDF/Patrick Waldmann)