Wenn Kinder Kinder töten - Viele Fragen nach Tod einer 12-Jährigen

Zwei Kinder haben in Freudenberg wohl eine 12-Jährige getötet. Die Justiz stößt an ihre Grenzen, denn die Täterinnen sind noch zu jung für eine Strafe. NRW-Ministerpräsident Wüst verspricht, dass der Tod von Luise konkrete Folgen haben soll.

Polizei in Freudenberg
Der Fall der getöteten 12-Jährigen aus Freudenberg sorgt für Entsetzen, denn die Täterinnen sind selber noch Kinder. (Bild: REUTERS/Stephane Nitschke)

"Fassungslos - sprachlos - hilflos": Drei Worte stehen auf einer Seite im Kondolenzbuch für die getötete 12-jährige Luise in der evangelischen Kirche Freudenberg. Sie drücken gut aus, was viele Menschen in der kleinen Stadt bei Siegen in Nordrhein-Westfalen gerade fühlen. Seit dem Wochenende trauern die Menschen um die 12-jährige Schülerin, die nach dem Besuch bei einer Freundin auf dem Heimweg in einem Waldstück getötet wurde. Am Dienstag nun die Nachricht: Die mutmaßlichen Täterinnen sind selbst noch Kinder. Zwei 12- und 13-jährige Mädchen haben gestanden, Luise mit zahlreichen Messerstichen getötet zu haben. Die Kinder kannten sich.

Was war das Motiv hinter der Tat?

Wer mit den Menschen in der Freudenberger Innenstadt spricht, stößt immer wieder auf die eine Frage: Warum? Warum musste die Schülerin sterben? Und warum begingen zwei Kinder wohl eine so grausame Tat?

Die Ermittlungsbehörden halten sich mit Antworten auf diese Fragen sehr zurück. Die mutmaßlichen Täterinnen müssten geschützt werden - gerade weil sie selbst noch Kinder seien, betonte der Leitende Oberstaatsanwalt in Koblenz, Mario Mannweiler.

Nur so viel sagt er: "Was für Kinder möglicherweise ein Motiv ist für eine Tat, würde sich einem Erwachsenen möglicherweise nicht erschließen." Angesichts der vielen Stichverletzungen bei dem Opfer liege jedenfalls die Vermutung nahe, "dass irgendwelche Emotionen eine Rolle gespielt haben".

Auch der der Kinder- und Jugendpsychiater Helmut Remschmidt vermutet gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland: "Dass sie einfach so, ohne Vorgeschichte, getötet haben, nur, weil sie jemanden sterben sehen wollten, ist außerordentlich unwahrscheinlich." Zwar seien Jugendliche oft impulsiver, weil durch die hormonellen Veränderungen gerade in der Pubertät die Aggressionsneigung zunehme, aber meist führe das nicht zu derart gewalttätigen Verbrechen, so Remschmidt weiter.

Die Motivsuche sei nun wichtig, denn "man kann eine Tat nicht unabhängig vom Motiv sehen". Taten von Kindern oder Jugendlichen seien oftmals reaktionär, beispielsweise als Reaktion auf Mobbingerfahrungen oder eine gefühlte Ungerechtbehandlung. Dennoch sagt auch der Psychiater: "Dass zwei Mädchen in diesem Alter ein anderes Mädchen erstechen, das habe ich in 40 Jahren noch nicht erlebt."

Wie geht es jetzt mit den Täterinnen weiter?

Kinder, die noch keine 14 Jahre alt sind, wenn sie ein Verbrechen begehen, gelten nach dem Gesetz als schuldunfähig. Denn es wird davon ausgegangen, dass sie die Folgen ihres Handelns noch nicht ausreichend überblicken. Sie können nicht vor Gericht gestellt und nicht verurteilt werden. Nach Angaben von Polizei und Staatsanwaltschaft gibt es aktuell keinen Hinweis auf die Beteiligung sonstiger Personen, insbesondere auch nicht von Erwachsenen.

Bundesjustizminister Marco Buschmann reagierte am Dienstagabend tief entsetzt. Kinder unter 14 Jahren würden zwar strafrechtlich nicht belangt, "aber unsere Rechtsordnung kennt andere Wege, um darauf zu reagieren, etwa das Kinder- und Jugendhilferecht sowie das Familienrecht", sagte der FDP-Politiker der Deutschen Presse-Agentur.

Am Ende der Ermittlungen gibt die Staatsanwaltschaft den Fall an die Jungendbehörden weiter. Welche Maßnahmen dort ergriffen werden, hängt Experten zufolge stark vom Einzelfall ab. Denkbar sei, dass ein Kind eine psychiatrische Behandlung bekommt, unter Umständen auch in einer geschlossenen Einrichtung. Möglich ist auch, dass die Eltern Hilfe bei der Erziehung bekommen - oder dass das Kind eine Zeit lang in einem Heim oder bei einer Pflegefamilie untergebracht wird. Die rechtlichen Hürden für eine Trennung von den Eltern gegen deren Willen sind aber hoch.

Die beiden Mädchen leben vorerst nicht mehr bei ihren Eltern. Die beiden 12- und 13-Jährigen seien "außerhalb des häuslichen Umfeldes untergebracht", teilte der zuständige Kreis Siegen-Wittgenstein mit. "Das ist auch damit verbunden, dass die Kinder nicht ihre bisherigen Schulen besuchen."

Die Mädchen hätten aber weiterhin Kontakt zu ihren Eltern. "Der Kontakt zur Familie ist aufgrund des jungen Alters der Mädchen für die Entwicklung einer gelingenden Unterstützung sehr bedeutsam und wird insofern unterstützt", teilte der Kreis mit. Auch für die beiden Tatverdächtigen handele es sich um eine "ganz außergewöhnliche Situation, die viel Empathie und umsichtiges Agieren erfordert", sagte Kreis-Jugenddezernent Thomas Wüst.

Auch mit der Familie der getöteten Zwölfjährigen stehe der Kreis in Kontakt. "Sobald die Familie von Luise dies wünscht, steht das Kreisjugendamt der Familie jederzeit zur Unterstützung zur Verfügung", teilte die Kreisverwaltung mit.

Was sind die absoluten Zahlen von tötenden Kindern?

Dass Kinder unter 14 Jahren Gewalttaten wie schwere Körperverletzung, sexuellen Missbrauch, Totschlag oder Mord begehen, kommt eher selten vor. 2021 ist die Zahl der tatverdächtigen Kinder in diesem Bereich gegenüber dem Vorjahr bundesweit angestiegen (7477 zu 7103). Verglichen mit 2019 gab es 2021 jedoch einen Rückgang um rund zehn Prozent.

Bei den Delikten gegen das Leben sind die absoluten Zahlen äußerst niedrig: 2021 gab es in diesem Bereich bundesweit 19 tatverdächtige Kinder, darunter vier Mädchen. Die Zahlen schwanken von Jahr zu Jahr stark, in den vergangenen 20 Jahren lagen sie jährlich zwischen vier und 21 Tatverdächtigen. Zur Einordnung: Laut Statistischem Bundesamt lebten in diesem Jahr rund 8,5 Millionen Kinder unter 14 Jahren in Deutschland.

NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) sprach von einem beunruhigenden Anstieg in Nordrhein-Westfalen. "Wir müssen diese Entwicklung nicht nur genau beobachten, wir müssen sie untersuchen, Ursachen finden und Präventionsarbeit leisten", betonte er. "Die Tat von Freudenberg wird Spuren über den schrecklichen Tod von Luise hinaus hinterlassen." Was diese Tat in der Orts- und der Schulgemeinschaft auslöse, lasse sich bestenfalls erahnen, sagte Wüst.

"Die eigentliche Arbeit, die fängt jetzt erst an"

Am Tatort war am Dienstag noch einmal die Polizei im Einsatz. Von der Tatwaffe fehlte noch immer jede Spur. Der Ort, an dem die Leiche von Luise gefunden wurde und wo sie wohl auch getötet wurde, liegt abgelegen im Wald an der Landesgrenze von Rheinland-Pfalz zu Nordrhein-Westfalen. Freudenberg ist einige Kilometer entfernt. Handys haben hier keinen Empfang. Das Gelände ist unwegsam, nur ein Radweg führt durch das Tal. Eigentlich hätte Luise gar nicht hierher gehen müssen, um nach Hause zu kommen. Was die drei Mädchen hierher geführt hat, auch dazu sagen die Ermittler nichts.

"Wir legen diesen Fall jetzt in die Hände der Jugendbehörden", sagte Staatsanwalt Mannweiler. Nun seien Psychologen, Psychiater und auch die Eltern gefragt. "Die eigentliche Arbeit, die fängt jetzt erst an."