Widerstand und Ungewissheit: Welche Auswirkungen hat der Tod von Mahsa Amini auf den Iran?
Die Sicherheitskräfte im Iran haben sich gut auf den ersten Jahrestag des Todes von Mahsa Amini vorbereitet.
Die junge Kurdin starb am 16. September im Gewahrsam der iranischen Sittenpolizei (bekannt als Irshad Patrol) und löste landesweit große Proteste aus.
Auch ein Jahr später sind die politischen und sozialen Auswirkungen ihres Todes noch immer im ganzen Land spürbar.
Während der mehrmonatigen Proteste wurden mehrere hundert Demonstranten getötet und mehr als 20 000 Menschen verhaftet. Die Proteste sind als "Woman Life Freedom"-Bewegung bekannt und spiegeln den Slogan wider, den die Gegner der Islamischen Republik verwenden.
Dutzende von Sicherheitskräften des Regimes und der berüchtigten Basidsch-Truppen wurden während der Unruhen ebenfalls getötet und verletzt.
Doch welche Auswirkungen hatten die Proteste auf den Iran?
Der Widerstand gegen den obligatorischen Hijab ist zu einem Zeichen des Protests geworden
Im Iran müssen Frauen per Gesetz ihr Haar mit einem Kopftuch bedecken.
Schon vor der Protestbewegung im letzten Jahr sah man Iranerinnen, die das Kopftuch locker um den Kopf oder manchmal auch um die Schultern trugen, um den Vorschriften zu trotzen, die in weiten Teilen der Bevölkerung äußerst unpopulär sind.
Der Streit um die Hijab-Pflicht ist zu einem der Hauptthemen geworden, die im Iran für Schlagzeilen sorgen.
Ohne ihre Entscheidung offiziell bekannt zu geben, hatten die iranischen Behörden in den Wochen und Monaten nach Aminis Tod die Sittenpolizei, die die strengen islamischen Bekleidungsvorschriften des Landes durchsetzt, von den Straßen abgezogen.
Die von der Sittenpolizei gegenüber Frauen und Mädchen ausgeübte Gewalt wird weithin als einer der Hauptfaktoren angeführt, die zu den Unruhen geführt haben.
Nun versuchen iranische Beamte, einen Weg zu finden, mit der wachsenden Zahl von Frauen umzugehen, die sich weigern, ihr Haar zu bedecken.
Das Machtgleichgewicht zwischen dem Regime und den aufmüpfigen Frauen könnte sich jedoch verändert haben.
Obwohl die Behörden in den letzten Monaten mehrfach betont haben, dass Verstöße gegen die Vorschriften bestraft werden, sagen Beobachter, dass sich die derzeitige Situation erheblich von der unterscheidet, mit der Frauen vor Aminis Tod konfrontiert waren.
Vor den Protesten hatten die iranischen Behörden vor allem mit Frauen zu tun, die einen "schlechten Hijab" trugen, d. h. ihre Haare nicht vollständig bedeckten, während sie heute immer mehr Frauen ohne Kopftuch in der Öffentlichkeit sehen.
Amini selbst wurde von der Sittenpolizei wegen eines angeblich "schlechten Hijabs" verhaftet, als sie mit ihrer Familie in die Hauptstadt Teheran reiste. Berichten zufolge wurde sie schwer verprügelt und erlitt mehrere heftige Schläge gegen den Kopf, was die iranischen Behörden jedoch bestreiten.
Die Sittenpolizei ist unterdesse auf die Straßen zurückgekehrt, um ihre Patrouillen fortzusetzen, wobei Frauen, die unverschleiert in ihren Autos gesehen werden, per SMS verwarnt werden. Allerdings treten diese Beamten nicht mehr als "Sittenpolizei" auf, wie sie es vor Aminis Tod taten.
In einem Euronews-Bericht vom April wurde festgestellt, dass China dieses harte Vorgehen gegen iranische Frauen "ankurbelt", indem es der iranischen Regierung wichtige Technologien und andere Unterstützung liefert.
Ali Khamenei, der Führer der Islamischen Republik, sprach vor einigen Monaten allerdings über deine Akzeptanz des "schwachen Hijab", wie er es nannte.
Seine Äußerungen könnten als Zeichen dafür gewertet werden, dass die iranischen Behörden dem Umgang mit Frauen, die sich komplett weigern, sich zu verschleiern, nun Priorität einräumen.
Viele einfache Iraner:innen machen sich jedoch mehr Sorgen über die steigenden Preise und die von Sanktionen geplagte Wirtschaft des Landes.
Eine Maßnahme, die die iranischen Behörden zuletzt ergriffen haben, um gegen Regelverstöße vorzugehen und sie zu bestrafen, ist das so genannte Keuschheits- und Hijab-Gesetz, das Geheimdienste und Polizei ermächtigt, gegen Frauen vorzugehen.
Experten der Vereinten Nationen bezeichneten die Gesetzesänderungen, die neue Strafen und hohe Bußgelder für unverschleierte Frauen vorsehen, kürzlich als "Geschlechterapartheid".
Wachsender Appetit auf "Regimewechsel"
Die Proteste, die durch den Tod Aminis ausgelöst wurden, entwickelten sich zu einer der größten Herausforderungen für die theokratischen Herrscher des Irans seit Jahren.
Die Unruhen wurden schließlich in einer Welle der Gewalt und des Blutvergießens niedergeschlagen. Die Sicherheitskräfte schosse auf Menschen, bloß weil sie zur Unterstützung der Demonstrant:innen gehupt hatten, und in Iranisch-Kurdistan wurden militärische Waffen eingesetzt.
Sporadische Proteste werden in Sistan und Belutschistan fortgesetzt, wobei die wöchentlichen Demos in der belutschischen Hauptstadt Zahedan noch lange andauern, nachdem in anderen Teilen des Landes relative Ruhe eingekehrt ist.
Die landesweiten Proteste im Jahr 2022 waren nicht nur eine der ernsthaftesten Herausforderungen für das Regime seit der islamischen Revolution von 1979, sondern auch in Bezug auf ihre geografische Ausdehnung und Länge beispiellos.
Experten sagten Euronews im November, dass die Gesellschaft in einzigartiger Weise geeint sei. Der iranische Menschenrechtsanwalt Shadi Sadr sagte damals, die Unruhen zeigten, dass das Regime die Zustimmung der "Kernanhänger" verloren habe.
Die iranischen Behörden, die von den Unruhen überrascht wurden, reagieren nun äußerst empfindlich auf eine mögliche Rückkehr der Unruhen auf den Straßen.
Die Verhaftung von Angehörigen getöteter Demonstrant:innen vor dem Amini-Jahrestag wurde von einigen als Zeichen der Unsicherheit des Regimes gedeutet.
In den letzten Monaten wurde über Unstimmigkeiten innerhalb des Regimes über den Umgang mit dem Widerstand berichtet. Cornelius Adebahr, ein ausländischer Mitarbeiter des Forschungszentrums Carnegie Europe, wies bereits im Dezember auf mögliche "Machtkämpfe" innerhalb der Eliten hin.
Neben "Frau, Leben, Freiheit" skandierten viele Demonstrant:innen Slogans, in denen sie offen einen Regimewechsel forderten.
Frühere Staatsoberhäupter im Iran, wie Präsident Hassan Rouhani, versuchten, die Islamische Republik von innen heraus zu reformieren und soziale Einschränkungen zu lockern. Die Proteste machten jedoch deutlich, dass viele Iraner:innen, insbesondere die Jugend, einen vollständigen Systemwechsel wollen.
Der Iran befindet sich in einer Wirtschaftskrise, die vor allem auf die internationalen Sanktionen wegen des Atomprogramms des Landes zurückzuführen ist.
Die Haushalte im ganzen Land sind mit raschen und aufeinander folgenden Preissteigerungswellen konfrontiert, wobei die iranische Währung laut The Economist innerhalb eines Jahrzehnts mehr als 90 Prozent ihres Wertes verloren hat.
Die Behörden befürchten, dass es zu öffentlichen Protesten gegen die schlechte Wirtschaftslage kommen könnte, wie sie 2019 aufgrund der gestiegenen Kraftstoffpreise ausgebrochen sind, zu denen sich ähnliche Unruhen wie nach dem Tod von Amini gesellen könnten.
Der Status quo zwischen dem Regime und den Demonstrant:innen scheint zwar wieder hergestellt, aber die derzeitige Situation erscheint in vielerlei Hinsicht instabil, angespannt und fragil.
Jeder Zwischenfall in den kommenden Wochen und Monaten könnte das Gleichgewicht der Kräfte auf die eine oder andere Weise zerstören. Unvorhersehbare Ereignisse, wie der Tod von Amini, könnten politische Beobachter "überraschen".
In der Zwischenzeit besteht eine der größten Unsicherheiten für das Regime darin, wer die Nachfolge des 84-jährigen Obersten Führers antreten wird.
Ali Khamenei hat die Islamische Republik mehr als drei Viertel ihrer turbulenten Geschichte geführt. Er ist der uktimative Entscheidungsträger des Landes, insbesondere in Fragen der Sicherheits- und Außenpolitik.
Angesichts der Bedeutung seiner Rolle und Position ist es schwer vorstellbar, dass sich der Iran und sein militärisch-sicherheitspolitischer Komplex in seiner Abwesenheit nicht verändern werden.