Wie sich Israel ins Abseits manövriert

Der Staat isoliert sich durch seine Gewalt immer mehr – Israel braucht konkret Solidarität und Druck zugleich

Ein Palästinenser inspiziert das  Autowrack einer internationalen Hilfsorganisation in Gaza (Bild: REUTERS/Ahmed Zakot)
Ein Palästinenser inspiziert das Autowrack einer internationalen Hilfsorganisation in Gaza. (Bild: REUTERS/Ahmed Zakot)

Man verliert beinahe den Überblick. Um die aktuellen krisenhaften Vorfälle im Nahen Osten aufzuzählen, reichen die Finger einer Hand längst nicht mehr: In Gaza sterben internationale Helfer nach Beschuss. In Damaskus sterben iranische Militärs nach einem Raketenangriff. In Washington D.C. tobt US-Präsident Joe Biden. Und in Jerusalem protestieren Bürger gegen ihre Regierung, während das Parlament ein Gesetz verabschiedet, nach dem Fernsehsender wie "al-Dschazira" geschlossen werden dürfen. Alles hat einzeln schon eine Menge Konfliktpotenzial. Zusammengenommen, bestärkt es die Furcht vor einer Spirale der Eskalation.

Nach den Terrorangriffen der radikalislamischen Hamas aus Gaza heraus gegen tausende Zivilisten in Israel mit über 1000 Toten hat die israelische Regierung in ihrer Antwort darauf ihre Verhältnismäßigkeit verloren. Die Massaker der Hamas, die in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Gewalt und Leid zum Ziel hatten, holten Traumata hervor, wie sie in der israelischen Gesellschaft auf Grund der über Jahrhunderte andauernden unverschuldeten Diskriminierungen und Pogrome gegen Juden bis hin zum industriellen Gaskammer-Völkermord durch Deutschland vorhanden sind wie in kaum einer anderen.

Nur reagierte Israels Regierung darauf mit schrecklicher Gewalt, die zu rechtfertigende Ausmaße längst überschritten hat. Gaza ist nicht Hamas. Es ist ein Stück Land, auf dem Menschen versuchen, ihr Leben zu leben. Ja, man kann die Einwohner Gazas dafür verantwortlich machen, von der Hamas regiert zu werden. Man darf sie aber nicht für die Terrorangriffe bezahlen lassen, indem ihr Land, ihre Lebensgrundlagen dem Erdboden gleichgemacht werden. Was in Gaza passiert, ist natürlich kein Völkermord. Aber es ist himmelschreiende, unmenschliche Ungerechtigkeit, die Erniedrigung, Verzweiflung und traumatische Erfahrungen nur aufs Neue in die nachwachsenden palästinensischen Generationen einpflanzt.

Israels Gesellschaft hat sich mehrheitlich nicht ehrlich gemacht und sich nicht der Frage gestellt, wie man mit den Palästinensern leben will. Über Jahrzehnte wurde sie wegmeditiert.

Verhärtungen, die bleiben wollen

Währenddessen sorgte man in Gaza durch Isolierung an den Außengrenzen für Frust und Stagnation – und im Westjordanland durch die andauernde und um sich greifende Besatzung für Ungerechtigkeit und Hierarchien. Beides ist rassistisch und keine gute Grundlage für ein Auskommen.

Nun gibt es Gründe für die Wachsamkeit der israelischen Gesellschaft. Das Regime in Teheran braucht den Hass auf Juden als Schmierstoff seiner eigenen Herrschaft und geht dafür über Leichen. Da überlegt man schon mal, mit einer Rakete vor Ort für das Setzen von Grenzen zu sorgen. Letztendlich stehen wir allein – das ist ein Gedanke, der sich in Israel mehr Luft schnappt.

Israel hat aber nie allein zu stehen. Das macht den Umgang mit Menschenrechtsverletzungen einfach und schwierig zugleich.

Einfach ist: Den Menschen in Gaza muss ein sofortiges Ende ihres Leids widerfahren, ein rascher Aufbau des Zerstörten. Dann sollen sie entscheiden, wie sie leben wollen und von wem sie regiert werden wollen. Die Menschen im Westjordanland brauchen ein Ende der Zwei-Klassen-Gesellschaft, ein Ende der Vorenthaltung von Grundrechten durch die israelische Besatzung und durch die palästinensische Autonomiebehörde, die sich seit Jahren vor Wahlen duckt.

Wie soll das alles klappen? Durch Druck von außen.

Die vielfältigen Sanktionsbemühungen von unten gehören abgeschafft. Denn Israel ist nicht wie Südafrika von vor 50 Jahren. Jeder Boykott von Israelischen ist Wasser auf die Mühlen des alten Antisemitismus, der sich am "Kauft nicht beim Juden" labt. Das Gegenteil dieses Wagenburgdenkens ist vonnöten: eine stete Umarmung der israelischen Gesellschaft, die Versicherung, diesem Land beizustehen und zu zeigen, dass es eben doch nicht alleinsteht. Nicht Boykott oder Sanktion, sondern noch mehr Kontakt, noch mehr Austausch müssen her.

Wie wär's mit Augenhöhe?

Und dann braucht es handfesten Streit. Eine Familie, in der man sich nie zofft, ist dysfunktional. Wer wirklich mit Israel fühlt, hat genügend Anlass zum Nörgeln. An die Regierungen Europas und der USA geht dann die Aufgabe, diesem Streit auch handfeste Drohungen folgen zu lassen. Die Finanzhilfen für den israelischen Staat müssen zum Faustpfand werden. Nicht die Militärhilfen – denn Israel ist auf seine Verteidigungsfähigkeit angewiesen. Aber warum sollte man eine Politik finanziell unterstützen, die einer Zukunft für die Palästinenser nicht nur den Rücken zeigt, sondern sie aktiv verhindert? Palästinenser wollen in erster Linie das Mindeste, nämlich Freiheit und Selbstbestimmung. Will sich eine Regierung in Israel darauf nicht einlassen, muss man sich in geschwisterlichen Streit begeben. Das ist die Aufgabe von anderen Regierungen, auch der Bundesregierung in Berlin. Viel zu lange hat man im Westen tatenlos zugeschaut, wie israelische Besatzung Jahr für Jahr facts on the ground schuf. Daraus ist nichts Gutes entstanden. Also sollte sich einiges ändern.

Die Weltgemeinschaft hat Israel eine Menge zu bieten, zum Beispiel: Dem Land zeigen, dass es nicht alleinsteht. Dass Menschenrechte elementar sind und für alle gelten. Dass die Frage nicht nur berechtigt, sondern notwendig ist, welche Folgen das eigene Tun für den Nachbarn zeitigt.

Von Netanjahu ist leider nicht viel Gutes zu erwarten. Seine Politik speist sich seit Jahren aus Spaltung und Korruption, aus Geringschätzung gegenüber allem Palästinensischen. Nur ist er eben demokratisch gewählter Ministerpräsident. Er mag auf eine Fortsetzung der Gewalt, zum Beispiel in Gaza, setzen – weil er sich davon erhofft, von eigenen Fehlern abzulenken und von den israelischen Wählern nicht zur Rechenschaft gezogen zu werden. Und doch ist auch ihm klarzumachen, dass seine Politik Konsequenzen haben sollte. Und sei es, dass auf bilateraler Ebene so manche Hilfe an Bedingungen geknüpft wird. Anders geht es nicht. Und aussichtslos ist das nicht.

Denn nirgendwo wird über israelisches Vorgehen gegenüber den Palästinensern in Gaza, im Westjordanland und in Israel mehr gestritten, als in Israel selbst; wie es sich für eine gelebte Demokratie gehört. Für diesen Zoff zwischen Tel Aviv und Jerusalem täte es gut, wenn der Westen den israelischen Bürgern aufzeigt, was er von Menschenrechten hält. Wie universell sie sind. Und wie sie eingehalten werden könnten.