Die Lästerer aus England lagen falsch - zu Kanes Leidwesen
Als Harry Kane in der 85. Minute das Feld verließ, sah vieles noch so gut aus. Da lag der FC Bayern im Halbfinal-Rückspiel der Champions League bei Real Madrid mit 1:0 vorne und war auf bestem Weg, ins Endspiel der Königsklasse einzuziehen. Der Torjäger hatte sogar den zwischenzeitlichen Führungstreffer durch Alphonso Davies vorbereitet. Nur konnte er seinem Team nicht mehr helfen.
Zum Schluss habe der für Eric Maxim Choupo-Moting ausgewechselte Kane „mit Rückenschmerzen“ gespielt, erklärte Bayern-Coach Thomas Tuchel hinterher und führte aus: „Bei ihm ging nichts mehr. Der Rücken war zu.“ Völlig machtlos musste der Engländer so mit ansehen, was dann passierte. In einer dramatischen Partie drehte Real das Ding spät - außerdem hatte der deutsche Rekordmeister bei einer Fehlentscheidung von Schiedsrichter Szymon Marciniak großes Pech.
Letztlich stand durch das denkbar bittere Halbfinal-Aus fest: Erstmals seit zwölf Jahren werden die Bayern eine Saison ohne einen Titel beenden und der berüchtigte „Kane-Fluch“ macht selbst vor München keinen Halt.
Denn obwohl der 30-Jährige - der am Sonntag gegen Wolfsburg angeschlagen pausieren wird - am Fließband trifft, hat er noch keine einzige Vereinstrophäe in die Höhe recken dürfen. Ein eigentlich nicht zu glaubender Fakt.
Kane mit unfassbar Torquote in München
Schon bei Tottenham Hotspur, wo er 14 lange Jahre für die Profis spielte und stolze vier Torjägerkanonen holte, gewann er mit seinem Team keine Trophäen. Gleiches Bild in der englischen Nationalmannschaft, dort ist Kane sowohl Kapitän als mittlerweile auch Rekordtorschütze. Umso titelgieriger kam er nach München, jenem Verein, der die Vitrine in den vergangenen Jahren so gut wie nur wenige andere Top-Klubs in Europa gefüllt hatte.
Aus der Heimat England begleiteten ihn deswegen auch kritische Stimmen. „Mit denen eine Trophäe zu gewinnen, wäre keine große Leistung“, spöttelte etwa Ex-Nationalstürmer Michael Owen. Das vergangene Jahr hat verdeutlicht, wie unfair das war - auf diese Art und Weise hatte Kane das Geläster aber eigentlich nicht widerlegen wollen.
Was die individuellen Leistungen angeht, hat Kane an der Säbener Straße all die hohen Erwartungen erfüllt. Der Stürmer erzielte in bislang 45 Einsätzen unglaubliche 44 Tore und bereitete zwölf weitere vor. Seine schlechten Partien lassen sich problemlos an einer Hand abzählen. Hinzu kommt: Er spielt mannschaftsdienlicher als der langjährige Torgarant Robert Lewandowski, hilft immer wieder in der Rückwärtsbewegung mit und setzt seine Teamkollegen schön in Szene. Aus England waren daher Worte zu hören, die wie Mitleid klingen.
Kane? „Er hat seinen Job gemacht“
„Er hat seinen Job gemacht. Er hat Tore geschossen“, sagte TNT Sports-Experte Rio Ferdinand nach der späten Niederlage der Münchner in Madrid über Kane. Der gebürtige Londoner habe eben „das getan, wofür er bezahlt wurde“, sprang Ferdinand seinem Landsmann zur Seite: „Sie haben ihn aus einem bestimmten Grund gekauft, und der war es, Tore zu schießen, aber auch weiterhin Trophäen zu gewinnen.“
Mit Blick auf dessen Teamkollegen ergänzte der frühere Verteidiger von Manchester United nur: „Ich finde, die anderen haben ihn etwas im Stich gelassen. Er ist der Mann, der auf den Platz kommt und Tore erzielt und Chancen für die anderen kreiert. Und genau das hat er getan.“ So sei das Aus in der Königsklasse für Kane noch schwermütiger als für die anderen, meinte Ferdinand: „Denn er ist hierhin gewechselt und zum ersten Mal seit zwölf Jahren haben sie nichts gewonnen.“
Ob fehlender Siegeswille, häufige Verletzungssorgen, all die Debatten rund um das Tuchel-Aus und seinen weiterhin nicht gefundenen Nachfolger oder interne Streitigkeiten - die Gründe für das Schwächeln der Bayern sind vielfältig. Die Torjäger-Kanone in der Bundesliga wird für Kane daher ein recht schwacher Trost sein, wenngleich noch nie jemand so viele Treffer in seinem ersten Jahr erzielt hat.
EM als nächste Hoffnung für Kane
Klar ist aber auch: Kane ist ein absoluter Vollprofi - sowohl im Team als auch bei den Fans überaus beliebt - und lässt den Kopf nicht hängen. Für die Anhänger nimmt er sich stets viel Zeit, auch bei Interviews steht er oft Rede und Antwort. Ihm ist bewusst, dass diese Sachen zum Alltag eines Fußballers gehören. Sorgen um einen vorschnellen Abgang braucht sich deswegen wohl niemand machen.
„Natürlich ist es nicht die Saison, die ich mir gewünscht habe, so wie die Liga gelaufen ist und wie wir früh in der Saison aus dem Pokal ausgeschieden sind“, gab Kane letzten Monat zu, „aber meine Zukunft liegt bei Bayern München. Ich habe einen Vier-Jahres-Vertrag, ich genieße es wirklich.“ In der kommenden Saison wolle er dann aufs Neue versuchen, seinen Titelfluch endlich zu beenden und den deutschen Rekordmeister wieder an die Spitze zu führen.
Und bis dahin? Vielleicht schafft es Kane ja doch schon vorher, seine Sehnsucht nach einer Trophäe zu stillen. Die nächste Chance bietet sich ihm bei der Europameisterschaft, die am 14. Juni startet. Zumal die „Three Lions“ bei der letzten EM vor drei Jahren schon ganz nah dran waren und erst im Finale nach Elfmeterschießen gegen Italien unterlagen. Nur logisch, dass die Engländer auch in diesem Sommer wieder zu den Top-Favoriten zählen.