"Zeigt, dass man keine Eier hat": Precht und Lanz nehmen Aiwanger-Affäre auseinander
"Rückgrat" und "Eier" vermisst Richard David Precht bei Hubert Aiwanger. Zugleich nahm er den mit der "Flugblatt-Affäre" kämpfenden Freie-Wähler-Chef in einer neuen Podcast-Folge in Schutz. Gesprächspartner Markus Lanz holte derweil zu einer Generalabrechnung mit dem ZDF-Kollegen Jan Böhmermann aus.
Es ist nicht ganz leicht, publizistisch mit der "Flugblatt-Affäre" um den bayerischen Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger schrittzuhalten. Gerade schilderten neue Zeugen gegenüber dem ARD-Magazin "Kontraste" ihre Erinnerungen an den einstigen Schulkameraden, da hatten Markus Lanz und Richard David Precht ihre neuste Podcast-Folge mutmaßlich schon fertig produziert.
In Folge 105 von "Lanz & Precht" aber ging es den beiden befreundeten Talkern auch weniger um die Vorwürfe im Einzelnen als vielmehr um die Debatte als Ganze. "Es geht um mehr als das reine Flugblatt", leitete Lanz das Zwiegespräch ein, um dann den Freie-Wähler-Chef scharf zu kritisieren. Vor allem stört sich der ZDF-Talker an Aiwangers in einem "Welt"-Interview getätigter Aussage, es werde in seinem Fall die Shoah zu parteipolitischen Zwecken missbraucht.
"Er sieht nicht die Opfer, er sieht sich als Opfer, und das ist schlimm", kommentierte Markus Lanz die Selbstverteidigungslinie des bayerischen Vizeministerpräsidenten, in dessen Ranzen im Schuljahr 1987/88 ein menschenverachtendes, antisemitisches Schriftstück gefunden worden war.
Precht über Aiwanger: "Damit zeigt man, dass man keine Eier hat"
Dass die genauen Hintergründe der damaligen Vorgänge bis heute nebulös sind, geißelte Richard David Precht scharf. Wenn man wie Aiwanger meine, "die Stimme des Volkes zu sein", dann müsse man "auch das Rückgrat haben, in Situationen, wo es um einen selber geht, sich so ehrlich wie möglich zu machen". Den Eindruck habe man aber nicht.
Erinnerungslücken, die der heute 52-Jährige nach rund 35 Jahren geltend macht, hält Precht für wenig glaubwürdig. Er selbst habe zu Schulzeiten einmal "wegen einer völligen Bagatelle" vor dem Direktor gestanden und erinnere sich an diesen angstvollen Moment, "als wenn es gestern gewesen wäre", sagte der Philosoph. Auch der von Aiwanger gebrauchte Begriff "Schmutzkampagne" sei fehl am Platze. "Natürlich ist er Opfer einer Kampagne, aber das Wort Schmutz würde ich weglassen, den Schmutz hat er fabriziert."
In den Augen Prechts habe Aiwanger die Chance verpasst zu erzählen, wie er seit seiner unrühmlichen Jugend dazugelernt hat. Er bediene vielmehr das Muster des vormaligen US-Präsidenten Donald Trump: nur zugeben, was man unbedingt zugeben muss. Alles andere streite er ab. Precht derb: "Damit zeigt man, dass man keine Eier hat."
Precht warnt "vor der Übermoralisierung einer Gesellschaft, die nichts verzeiht"
Dennoch gebe es einen Punkt, in dem er Hubert Aiwanger verteidigen müsse, fuhr Richard David Precht fort: "Man kann nicht an das Kreuz dessen geschlagen werden, was man mit 16, 17 für einen Scheiß fabriziert hat." In diesem Zusammenhang kritisierte er auch die Informanten der Recherche scharf: "Was sind denn das auch für Leute, die 35, 36 Jahre später meinen, sie müssten zu einer Zeitung gehen und jemanden anschwärzen?" - "Denunziantentum", warf Lanz einen Begriff ein, den Precht umgehend bekräftigte.
Ein anderer Punkt sei ihm noch wichtiger, fuhr Precht fort - nämlich die aus seiner Sicht fehlgeleitete Schlussfolgerung, der öffentlich gewordene Schulzeitskandal zeige, wie der heutige Spitzenpolitiker in Wahrheit ticke. "Wenn er mit 16 oder 17 in irgendwelchen verirrten Kreisen unterwegs war, ist das kein Beleg dafür, dass er heute noch ein Nazi ist", hielt Precht dagegen. Alles andere sei "Küchenpsychologie", und die gehe ihm - so der promovierte Germanist wörtlich - "dermaßen auf den Sack". Precht: "Menschen verändern sich. Man ist nicht im Kern das, was man mit 16 gewesen ist."
Menschen, so Precht weiter, seien ein "Ensemble aus Widersprüchen": "Man hat nicht diesen einen wahren Kern, den Journalisten zu enthüllen haben." Auch könne man Menschen nicht "das Recht auf Lernen und auf Veränderung absprechen". Aus seinen Worten lasse sich "keinerlei Verteidigung für rechtsradikales Schriftgut an der Schule" ableiten, versicherte Precht, aber durchaus eine "Warnung vor der Übermoralisierung einer Gesellschaft, die nichts verzeiht".
"Wir können nicht die Nazi-Grenze ein Zentimeter von der Mitte anfangen lassen"
An dieser Stelle kam Precht von Aiwanger auf eine andere Person des öffentlichen Lebens zu sprechen, mit der sowohl er als auch Markus Lanz seit Jahren in einem diskursiven Dauerkonflikt stehen. "Wir können nicht die Nazi-Grenze einen Zentimeter von der Mitte anfangen lassen", sagte Precht und brachte dann den Namen eines ZDF-Satirikers ins Spiel: "Für Jan Böhmermann ist ja jeder, der rechts von der SPD steht, unter Naziverdacht."
Zuletzt hatte Jan Böhmermann in einem Social-Media-Kommentar (X, vormals Twitter) bezugnehmend auf ein Friedrich-Merz-Zitat von der CDU als "Nazis mit Substanz" gesprochen. "Wie kann man so was sagen?", ereiferte sich Markus Lanz, der nun seinerseits zu einer Generalabrechnung mit seinem Senderkollegen ausholte. Jan Böhmermann beschäftige sich "oft mit uns, heute beschäftigen wir uns mal mit ihm".
Bei einer von der Wochenzeitung "Die Zeit" initiierten Podiumsdiskussion habe ihn Böhmermann während der Corona-Pandemie mit der Vorwurf der "false balance" konfrontiert, also der irreführenden Gewichtung inhaltlicher Positionen durch die Auswahl von Talkshow-Gästen. Hintergrund sei die Tatsache gewesen, dass der wegen seiner Positionen umstrittene Virologe Hendrik Streeck wiederholt im ZDF-Talk "Markus Lanz" sprechen durfte.
Lanz attestiert Böhmermann "eine Form von Feigheit"
Die Podiumsdiskussion mit Böhmermann hat Lanz in schlechter Erinnerung. Ihm sei damals eine Masche an seinem Debatten-Kontrahenten aufgefallen. Als Böhmermann argumentativ in die Enge geraten sei, habe er "den Notausgang Satire" gewählt. Lanz: "Du zündelst mit Argumenten und wenn du merkst, es fällt dir auf die Füße, dann war's Satire." Damit könne er nicht gut umgehen, ärgerte sich der ZDF-Talker über den "ZDF Magazin Royale"-Moderator, dem er "eine Form von Feigheit" attestierte. Lanz: "Steh doch bitte zu deinem Argument, kenne dein Argument, vertrete es so, dass es auch wirklich konsistent ist, und dann bleib auch dabei."
"Das Problem ist größer als die Person Böhmermann", kommentierte Precht die Ausführungen seines Podcast-Partners und kam auf die gesellschaftliche Rolle von Comedians insgesamt zu sprechen. Früher wäre es die Aufgabe des politischen Kabaretts gewesen, sich mit den Mächtigen anzulegen. Heute habe man es mit politischen Comedians zu tun. "Die brandmarken alles, was nicht Mainstream ist, also genau umgekehrt." Auch Carolin Kebekus sei ein Beispiel für diesen neuen Typus, der, so Precht, "herrschaftsstabilisierende Funktion" habe, indem "Abweichler" lächerlich gemacht würden.
"Der einzige Gewinner an der ganzen Geschichte wird der Populismus sein"
Dieter Nuhr verortete der Bestsellerautor und Philosophie-Talk-Gastgeber hingegen in der alten Kabaretttradition, er stelle Herrschaftsnarrative infrage, das sei auch "durchaus die Aufgabe von politischen Comedians". Dafür werde er von "anderen Comedians, die so eine Art Sharia-Polizei für den Cursor des gefühlten Anstands sind, angegriffen, und zwar massiv".
Zuletzt schlug Precht den Bogen zurück zu Hubert Aiwanger, der laut jüngsten Umfragen keinen Schaden an der Affäre nahm, sondern sogar in der Wählergunst zulegte. "Der einzige Gewinner an der ganzen Geschichte wird der Populismus sein und die Leute, die sagen, in diesem Land darf man nicht mehr sein, wer man ist, und nicht mehr sagen, was man denkt", befürchtet Precht. In diesem Sinne sei Aiwangers "offensichtliche Reulosigkeit" brandgefährlich.
Video: Aiwanger beim Gillamoos-Frühschoppen: Von der Flugblattaffäre keine Spur