Der Fall Wulff: „Politiker sind schon wegen weit weniger zurückgetreten“

Wie lange kann sich Bundespräsident Wulff noch im Amt halten? Und was geschieht, falls er zurücktritt? Wir sprachen mit dem Diplom-Politologen Carsten Koschmieder vom Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. Der Experte sieht in diesem Fall ein gewaltiges Problem auf die Bundesregierung zukommen. Denn ein geeigneter Nachfolger, so Koschmieder, ist weit und breit nicht in Sicht.


Yahoo! Nachrichten: Herr Koschmieder, muss Wulff zurücktreten?

Koschmieder: Ob er das muss, ist eine moralische Frage. Die muss jeder für sich selbst entscheiden. Ich sage aber so viel: Politiker sind schon wegen weit weniger zurückgetreten. Hätte er ein anderes Amt, zum Beispiel einen Ministerposten in einem Landeskabinett, wäre er schon längst gegangen. Ich glaube aber derzeit noch nicht, dass er zurücktritt. Das liegt daran, dass im Grunde weder Regierung noch Opposition ein Interesse am Rücktritt des Bundespräsidenten haben.

Weshalb nicht?

CDU und FDP wollen natürlich keine weitere Regierungskrise. Und SPD und Grüne haben kein Interesse an der Wahl eines neuen Bundespräsidenten, solange sie keine Mehrheit in der Bundesversammlung haben. Tritt Wulff jetzt zurück, könnte ja wieder ein Kandidat von Schwarz-Gelb für fünf Jahre gewählt werden. Wenn Wulff aber seine Amtszeit normal zu Ende bringt und sich nach den nächsten Wahlen die Mehrheitsverhältnisse in der Bundesversammlung wenden, könnte Rot-Grün einen eigenen Kandidaten zum Bundespräsidenten küren.

Also bleibt Wulff im Amt?

Noch sieht es danach aus – aber das kann sich schnell ändern, wenn jetzt immer neue Vorwürfe aufkommen.

Was würde passieren, wenn Wulff zurücktritt? Schlittert die Bundesrepublik in eine Staatskrise?

Dieses

Wort würde ich nicht verwenden. Der Ablauf ist in einem solchen Fall klar geregelt: Der Bundesratspräsident (derzeit ist das Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer, CSU, d. Red.) übernimmt vorübergehend die Amtsgeschäfte. Die Regierung muss sich dann auf die Suche nach einem neuen Kandidaten machen. Bisher hat sich da aber noch kein Favorit herauskristallisiert – außer den üblicherweise gehandelten Kandidaten Wolfgang Schäuble und Ursula von der Leyen (beide CDU).

Wer käme Ihrer Ansicht nach in Frage?

Das ist das Problem: Ich sehe derzeit überhaupt keinen, der offensichtlich geeignet ist. Es wäre dringend notwendig, dass man eine Identifikationsfigur findet: jemanden, der überparteilich als ehrenvolle und integere Persönlichkeit respektiert wird – auch von seinen politischen Gegnern. Nur so kann der Verlust an Vertrauen in dieses Amt wieder wettgemacht werden. Aber so einen Kandidaten sehe ich bislang nirgends. Die Suche könnte sich also ziemlich hinziehen.

Könnte Joachim Gauck noch einmal eine Rolle spielen?


Das glaube ich nicht, aus einem einfachen Grund: Er war bei der letzten Wahl der Kandidat der Opposition. Und ich denke nicht, dass die Regierung auf einen Vorschlag des politischen Gegners zurückgreifen wird.

Was würde ein Rücktritt Wulffs für die Regierung Merkel bedeuten, die schon so viele Rücktritte und Personalquerelen erlebt hat?

Das wäre natürlich ein weiterer fataler Rückschlag für die aktuelle Regierung. Merkel hat den Kandidaten Wulff ausgewählt, das fällt voll auf sie zurück – auch wenn Bundespräsident und Regierung formal getrennt sind. Aber die Regierung Merkel würde auch diesen Rückschlag hinnehmen – und trotzdem einfach weitermachen.