Die Anatomie des Mordes an Michèle Kiesewetter

Die Polizistin Michèle Kiesewetter wurde mutmaßlich von Rechtsextremen der Zwickauer Terrorzelle ermordet. Opfer und Täter verbrachten ihre Kindheit in der gleichen Region. Ein Doppelporträt.

Der 25. April 2007 ist ein schöner Tag. Als Michèle Kiesewetter und ihr Kollege Martin A. gegen 13.45 Uhr auf den Parkplatz an der Theresienwiese fahren und ihren BMW-Kombi mit dem Kennzeichen GP – 3464 im Schatten eines Trafo-Häuschens parken, öffnen sie die Türen des Streifenwagens.

Sie machen Mittagspause, das Thermometer zeigt 25 Grad, die Sonne scheint. Die Fahrerin Kiesewetter steckt sich eine Zigarette an und isst ihr "Baguettini", das sie gerade bei der Bäckerei Kamps gekauft hat.

Die beiden Bereitschaftspolizisten der Einheit BFE 523 haben eine Dienstbesprechung hinter sich, sie sollen als Angehörige des Einsatzes "Sicheres Heilbronn" das städtische Polizeirevier unterstützen.

Da schleichen sich unbemerkt zwei Männer von hinten an das Auto an, der auf der rechten Seite ist ein wenig schneller als sein Begleiter. Beinah zeitgleich feuern die Männer aus nächster Nähe auf die Polizisten. Martin A. hat seinen Kopf im Moment der Schussabgabe leicht nach rechts oben gerichtet, die Kugel durchschlägt seinen Schädel an der Schläfe und bleibt im Rücksitz stecken.

Michèle Kiesewetter wendet sich von ihrem Mörder ab und blickt zur Beifahrerseite, vermutlich hat sie ihn nicht gesehen. Auch sie wird an der Schläfe getroffen, das Projektil dringt am Jochbein wieder aus, jagt durch die geöffnete Beifahrertür und prallt in einer Höhe von 42 Zentimetern an der Außenwand des Trafohäuschens ab, dann fällt es in einen Lichtschacht.

Die Polizistin kippt nach rechts ab, ihr Kopf lehnt an der linken Schulter von Martin A., dessen Oberkörper ebenfalls zur Mitte geneigt ist.

Wann beginnt es? Gibt es den Moment, an dem ein Schalter umgelegt wird, an dem Uwe Böhnhardt, der Sonnenschein der Familie, der seine Nichte über alles liebte, der seiner Mutter gefallen wollte, zu einem gemeingefährlichen Verbrecher und Mörder wird?

"Uwe war ein Wunschkind und wurde von allen geliebt", sagt seine Mutter Brigitte Böhnhardt "Welt Online". Er wächst in einer Plattenbausiedlung in Jena-Lobeda auf, Typ WBS 70, sehr beliebt bei den Mietern.

Sie reden nicht von Getto, sondern von Gemeinschaft. Sie sei immer hinterher gewesen mit der Schule, es lief nicht alles glatt. Mit 13 Jahren beginnt Uwes Sinkflug. Er schwänzt, hängt mit Älteren herum, bricht in Kioske ein, stiehlt Zigaretten, klaut in Supermärkten.

"Uwe hat noch nicht begriffen, dass seine Aufgabe darin besteht, die Schule zu besuchen und sich am Unterricht zu beteiligen", schreibt seine Klassenlehrerin im Halbjahreszeugnis 1991. "Da begann unser sechsjähriger Kampf um unseren Sohn", sagt seine Mutter.

Oberweißbach liegt mitten im Thüringer Wald, zwischen Rennsteig und Schwarzatal. Die Häuser liegen links und rechts der Landestraße 1145, die sich durch den Ort schlängelt. Michèle wird hier am 10. Oktober 1984 geboren, ihren Vater lernt sie nie kennen.

Stattdessen nimmt sich der neue Freund ihrer Mutter, Ralf Kiesewetter, des Kindes an, er wird ihr Nennvater. Im Jahre 2002, kurz bevor Michèle Polizistin wird, trennt sich ihre Mutter von ihm und lebt nun mit Frank L. zusammen.

Den Beamten der Sonderkommission erzählt Annette Kiesewetter, dass Michèle früher Biathletin war und Crossläufe unternommen habe. Außerdem engagierte sie sich im Kirmesverein. "Sie war sehr beliebt", sagt die Mutter.

Als er das erste Mal ins Gefängnis muss, ist Uwe Böhnhardt 15 Jahre alt und doch noch so weich, dass er jedes Mal weinen muss, wenn seine Eltern zu Besuch kommen. Im Februar 1993 sitzt der Junge drei Monate lang im Männerknast Hohenleuben. Diebstähle, Einbrüche, Körperverletzungen listet seine Akte auf.

Der Junge erzählt schockierende Geschichten von Männern, die Mitgefangene mit einem Besenstiel quälen, um sie gefügig zu machen. Er zeigt auf ein Tattoo, dass ein Gefangener auf seinen Unterschenkel gestochen hat. Es ist ein Schriftzeichen, das ihn als Mitglied einer Knastgruppe ausweist, wie ein Brandzeichen. Sein Schutzwappen.

Im Jahr 2003 beginnt Michèle Kiesewetter ihren Dienst bei der Landesbereitschaftspolizei Baden-Württemberg. Ihr Großvater Fritz W. erzählt in einer Vernehmung, wie sie sich zusehends von ihrer Heimat entfremdete, nur noch zwei Freundinnen habe sie im Ort gehabt.

Zu anderen habe sie die Beziehung abgebrochen, weil die "gekifft hätten". Daher sei Michèle in letzter Zeit langweilig gewesen, wenn sie nach Oberweißbach gekommen ist. Am 19. April, so der Großvater, habe sie einen Anruf aus der Polizeizentrale in Böblingen bekommen, sie müsse zurück zum Dienst.

Aber Fritz W. ahnt oder weiß sogar, dass das nur vorgeschoben ist. Michèle muss nicht, sie will. Sie fährt zurück nach Heilbronn, um ihre Schicht anzutreten. Hinter der Sonnenblende ihres Fiat Punto finden die Fahnder ein Foto, dass Kiesewetter zusammen mit Kollegen zeigt, als seien sie eine Familie.

Es beginnt wohl 1994. Da freundet sich Uwe Böhnhardt mit den Rechten an, geht in den Jugendklub von Winzerla neben seiner Schule und lernt Menschen wie den NPD-Funktionär Ralf Wohlleben und den arbeitslosen Neo-Nazi Uwe Mundlos kennen.

"Er hat nicht alles erzählt", sagen seine Eltern heute. "Er wollte uns nicht wehtun." So erklären sie es sich. Sie sehen nur die eine Seite ihres Sohnes, der ein Jugendzimmer mit Dutzenden Wimpeln des FC Carl Zeiss Jena bewohnt, dem sie verbieten, verdächtige Fahnen aufzuhängen und Rechtsrock zu hören. Doch der Verfassungsschutz führt ihn bereits ab 1995 in seinem Informationssystem als Rechtsradikalen.

Böhnhardt ist aktiv in der Kameradschaft Jena als Vize seines Kumpels André Kapke, der im Hochhaus nebenan wohnt. Mitte der 90er-Jahre besucht er Stammtische des Thüringer Heimatschutzes (THS), einer rechtsextremen Organisation. Er gilt als Waffennarr und gewaltbereit, als er mit der hasserfüllten Ideologie in Berührung kommt. Eine brandgefährliche Mischung.

Michèle Kiesewetter kann sich über mangelnden Zuspruch von Männern nicht beklagen. Zurzeit habe sie "drei Verehrer", erzählt sie ihrer Halbschwester bei ihrem letzten Besuch am 20. April.

Zwei seien bei der Polizei, einer arbeite als Lastwagenfahrer. Ihre vorangegangenen Beziehungen dauern mal ein paar Monate, mal ein Jahr. Einmal will sie mit einem Ingo zusammenziehen. Als sie die gemeinsame Wohnung renovieren, steht auf einmal die Ex-Frau in der Tür.

Sie eröffnet Michèle, dass diese sich dann auch um das Kind, das sie mit Ingo habe, kümmern müsse. Daraufhin beendet Michèle die Beziehung; Ingo kehrt zur Mutter seines Kindes zurück.

Auf dem Bild thront Uwe förmlich mit seiner Freundin auf einer Sitzgruppe, umgeben von Freunden. Die beiden in der Mitte halten einander an der Hand und lächeln ein bisschen verschüchtert in die Kamera, verliebte Teenager eben.

"Wir mochten Beate", sagt Brigitte Böhnhardt und blickt lange auf das Foto. Es ist um 1996 herum entstanden. Zwei Jahre später taucht er ab, weil er eine Haftstrafe antreten muss. "Ich habe gehofft, dass er ein neues Leben hat. Dass er arbeitet, Geld verdient, vielleicht eine Familie gegründet hat", erzählt seine Mutter.

"Damit habe ich mich auch getröstet, indem ich mir sagte: Okay, dann weißt du jetzt nichts davon, kannst nicht an seinem Leben teilnehmen, aber vielleicht geht’s ihm gut."

Bis zuletzt ermitteln die Beamten in Heilbronn nicht einmal annähernd in die richtige Richtung. Lange Zeit fahnden sie unter serbischstämmigen Sinti und Roma nach den Tätern, die Landfahrer campieren während des Mordes auf der Theresienwiese. Sie fahren sogar einmal nach Belgrad, um einen Verdächtigen zu verhören; dieser muss einen Lügedetektortest absolvieren, den er besteht.

Sonnabend, 5. November, 7 Uhr morgens, das Telefon klingelt, und Brigitte Böhnhardt fragt sich, wer um diese Zeit anruft. "Hier ist Beate", meldet sich eine Frauenstimme. "Wer?", fragt Frau Böhnhardt noch schlaftrunken.

"Beate. Beate Zschäpe."

"Beate? Wie geht es Uwe?"

"Der Uwe kommt nicht mehr."

"Wollt ihr euch stellen?"

"Nein."

"Ist er tot?"

"Ja."

Als die beiden Polizisten schwer verletzt im Wagen liegen, plündern die beiden Mörder die Ausrüstung. Sie nehmen Kiesewetters Dienstwaffe des Typs P 2000, Nummer 116-021769, mit, ein Paar Handschellen, ein Taschenmesser, eine Mini-Maglite-Taschenlampe.

Sie zerren an dem Verletzten Martin A., sodass er halb aus dem Auto heraushängt, um an seine Waffe zu kommen. Um an die Pistole von Kiesewetter zu kommen, müssen sie das stark blutende Opfer anfassen und dabei erhebliche seelische Reflexe überwinden – oder diese fehlen eben, wie die Soko-Ermittler schreiben.

Die eigene Kleidung der Täter müsste, bedingt durch den relativen Nahschuss, blutverschmiert sein. Die Pistole und die Handschellen findet die Polizei vier Jahre später in dem Zwickauer Haus, in dem das Trio lebte. Auch die Tatwaffen, eine Tokarew und eine Radom, liegen im Brandschutt. Beate Zschäpe hat das Haus angezündet, bevor sie sich stellt.

Das Ende mit Schrecken nimmt den Böhnhardts die Entscheidung ab, wie sie mit einem lebenden Uwe umgehen würden. "Wenn er im Gefängnis sitzen würde, hätte ich ja nicht mal gewusst, ob ich ihn sehen will, ob ich ihn besuchen will. Ich hätte mich immer entscheiden müssen: Will ich ihn sehen, nach dem, was er getan hat?" Sie überlegt kurz.

"Wahrscheinlich nicht."

Gegen 14 Uhr radelt Peter S. am 25. April 2007 auf dem Radweg entlang der Eisenbrücke zum Hauptbahnhof an der Theresienwiese vorbei. Aus den Augenwinkeln bemerkt er den Streifenwagen und die auffällig weit geöffneten Türen, aus denen etwas herausragt.

Er fährt zurück und erkennt aus etwa 30 Meter Entfernung, dass dort ein Polizist mit blutverschmiertem Hemd liegt. Panisch tritt Peter S. in die Pedale und fährt zum Hauptbahnhof.

Den ersten Taxifahrer, den er sieht, bittet er, die Polizei zu rufen. Ein weiterer Zeuge will einen Lieferwagen wegfahren sehen, in denen ein Mann hineinspringt und "Dawei, dawei!" ruft. Doch die "Russen-Spur" verliert sich, sie lässt sich nicht erhärten.

Am 4. November 2011 gegen 9.20 Uhr überfallen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt die Sparkassenfiliale in Eisenach am Nordplatz 13. Dieses Mal ist die Ringfahndung erfolgreich: Um 11.55 Uhr wird das Fluchtfahrzeug, ein weißes Wohnmobil, in der Straße An der Leite 8 entdeckt.

Zwei Streifenbeamte nähern sich dem Fahrzeug, es ist kurz nach 12 Uhr. Plötzlich hören die Beamten Geräusche, ein Schuss fällt und kurz darauf ein zweiter. Die beiden Beamten gehen in Deckung und alarmieren die Zentrale, da fällt ein dritter Schuss, schließlich knallt es dumpf, und das Wohnmobil geht in Flammen auf.

Böhnhardt und Mundlos können später nur durch DNA-Vergleichsproben ihrer Eltern identifiziert werden.

Um 14.22 Uhr trifft die Notärztin S. am Tatort an der Theresienwiese ein. Überall wimmelt es von Polizisten. Martin A. lebt, er wird mit dem Rettungshubschrauber in die Neurochirurgie des Krankenhauses Ludwigsburg geflogen. Michèle Kiesewetter ist nicht mehr zu retten. Später wird der Obduktionsbericht feststellen, dass der Schuss sie sofort getötet hat.

Nach all den Jahren im Nebel gibt Jörg Ziercke vor, etwas zu wissen. Vor dem Innenausschuss des Bundestages mutmaßt der Präsident des Bundeskriminalamtes am 21. November 2011, dass sich Uwe Böhnhardt und Michèle Kiesewetter persönlich gekannt haben könnten, es sich mithin um eine Beziehungstat handeln könnte.

Belegen kann er die Spekulation weder an diesem Tag noch in den Wochen darauf. Jens Ungelenk, der Bürgermeister von Oberweißbach, wehrt sich in einem offenen Brief.

Ungelenk fordert Ziercke und dessen Dienstherrn, Innenminister Hans-Peter Friedrich, auf, sich bei den Angehörigen von Michèle Kiesewetter zu entschuldigen, sonst machten sie "die Opfer zu Tätern und sich selbst immer unglaubwürdiger".

Michèle Kiesewetter wird am 2. Mai 2007 in Oberweißbach beerdigt, etwa 1300 Gäste nehmen an der Trauerfeier teil. Seit vergangener Woche erinnert auch eine Gedenktafel vor der Theresienwiese an die ermordete Polizistin.

Uwe Böhnhardts Urne lassen seine Eltern im Januar in einem anonymen Gräberfeld in Jena beisetzen. Warum Böhnhardt und Mundlos die Polizistin töteten, ist noch immer ungeklärt.