Ungarns Kirche von Viktor Orbáns Gnaden abhängig

Orbán und seine Regierung verändern nicht nur das Gesicht Budapests: Das neue Gesetz, seit Januar in Kraft, lässt nur noch 32 von ehemals 350 Kirchen und Religionsgemeinschaften zu

Ungarns Regierung greift tief in alle Bereiche der Gesellschaft ein: Jetzt fürchten auch die Kirchen und Religionsgemeinschaften um ihre Existenz.

Tamás Lukács sitzt dem Ausschuss für Menschenrechte im ungarischen Parlament vor. Sein Komitee ist auch für Religionsfragen zuständig, und als dessen Chef kann sich Lukacs ein bisschen fühlen wie der liebe Gott selbst.

Denn der Abgeordnete der Christlich-Demokratischen Volkspartei, die seit Frühjahr 2010 als Anhängsel von Viktor Orbáns Fidesz übermächtig die Geschicke Ungarns bestimmt, entscheidet neuerdings über die Kirchen in seinem Land. Genauer gesagt darüber, wer noch den Status einer Glaubensgemeinschaft zuerkannt bekommt.

„Die Anerkennung zur Kirche ist kein Recht, sondern eine Gnade“, erklärte Lukács, „auch dann nicht, wenn sie den gesetzlichen Vorschriften entsprechen.“ Und wer nicht von Fidesz' Gnaden ist, darf sich nur noch als Verein bezeichnen – mit allen juristischen und finanziellen Folgen.

Sie sind bis in Budapests achten Bezirk zu spüren. Dort steht das Obdachlosenheim „Beheizte Straße“, seit Jahren eine Institution für die wachsende Zahl von Menschen, die alles verloren haben. Eigentlich für 300 Personen zugelassen, suchen hier mittlerweile bis zu 1000 Obdachlose Unterkunft – pro Tag.

In den kommenden Wochen aber könnten sich die Türen für immer schließen. Denn das Heim wird von der Evangelischen Bruderschaft betreut, und die hat ihren Status als Kirche Ende Februar verloren. Damit ist nach ihren Angaben gut die Hälfte aller Einkünfte verloren, die sich aus staatlicher Unterstützung speisten.

Pastor Gabor Ivanyi leitet die Bruderschaft seit vielen Jahren, der Mann mit dem langen weißen Rauschebart ist durch seine öffentlichen Auftritte bei Protesten und in Fernsehsendungen bekannt, nicht zuletzt dem Premier selbst: Ivanyi taufte die ersten beiden von Orbáns fünf Kindern. In den 90er-Jahren saßen beide für liberale Parteien im Parlament. Doch als Orbán sich und seine Fidesz immer weiter in die nationalkonservative Richtung drückte, wandte sich Ivanyi vom einstigen politischen Freund ab.

„Orbán kann keine Kritik vertragen. Ich verstecke meine Meinung aber nicht“, sagt der Kirchenmann, dessen Gemeinde nicht nur Obdachlose betreut, sondern auch 3000 Roma-Kindern Schulunterricht ermöglicht, an einer eigenen Hochschule Sozialarbeiter ausbildet und rund 800 Mitarbeiter hat.

Möglicherweise muss er sein Beharren auf freie Meinungsäußerung jetzt bitter bezahlen. Grund ist das neue Kirchengesetz, das Fidesz mit seiner Zweidrittelmehrheit im vergangenen Sommer in einer Hauruckaktion durchbrachte und das zu Jahresbeginn in Kraft trat. Eine weitere „Säuberungsaktion“ der Regierung Orbán, die seit ihrem Antritt vor bald zwei Jahren in alle Bereiche der Gesellschaft eingreift: in die Medien, den Arbeitsmarkt, das Justizwesen, selbst vor der Unabhängigkeit der Nationalbank macht der Regierungschef nicht halt.

Orbán selbst sieht allen Grund, auch die Kirchen auf seine lange schwarze Liste zu setzen, denn „ein wesentlicher Teil davon wurde nur ins Leben gerufen, um Steuern zu hinterziehen“.

350 sogenannte Kleinkirchen gab es seit der Wende in Ungarn. Nur wenige davon haben die Hürde des neuen Gesetzes nehmen können: Ende Februar hat das Parlament, nach einer auf Druck von außen eingeräumten Verlängerungsfrist, nur 32 Kirchen und Religionsgemeinschaften anerkannt. Darunter sind neben den christlichen Volkskirchen Muslime, Adventisten, Pfingstkirchen, Methodisten, Anglikaner, Kopten, Mormonen, fünf buddhistischen Gemeinschaften, Hindus, die Zeugen Jehovas.

Die Anträge von weiteren 66 kirchlichen Gemeinschaften um Aufnahme jedoch wurden abgelehnt, darunter auch Ivanyis Bruderschaft, die eine Abspaltung der Methodisten ist. Sie scheiterte am Votum der Abgeordneten – denn die bestimmen nun, wer Kirche sein darf und wer nicht. Als Feigenblatt hatte die Regierung noch versucht, die Ungarische Akademie der Wissenschaften mit ins Boot zu holen. Deren Experten sollten die Anträge, mit denen sich die Glaubensgemeinschaften um eine erneute Registrierung bewerben mussten, gemeinsam mit den Parlamentariern beurteilen. Doch die Akademie lehnte ab.

Tamás Lukács scheut sich nicht, offen die Gründe für die Ablehnung von Ivanyis Antrag zu nennen: „Warum denkt er, dass wir seine Einrichtung weiterfinanzieren? Nur, weil die Vorgängerregierung, der er politisch nahestand, ihm öffentliche Gelder gegeben hat? Denkt er, das ist Religionsausübung? Man muss sich entscheiden, ob man sich lieber mit dem Glauben oder der Politik beschäftigt“, so Lukács zum Sender NDR.

Selbst US-Außenministerin Hillary Clinton vermochte Budapest nicht zu beeindrucken. In einem Brief drückte sie vergeblich ihre Sorge aus, dass „die notwendige Zweidrittelmehrheit im Parlament für die Anerkennung als Kirche ein Grundrecht unnötig politisiert“.

Auch der Europarat kritisierte das Gesetz diese Woche als „überzogen“ und zum Teil von „Willkür“ geprägt, ihm fehlten klare und strikte Kriterien. Fidesz, so warnt Ungarns ehemalige Außenministerin und EU-Abgeordnete Kinga Göncz, „versucht die einen zu privilegieren und die anderen auszuschließen, um einen korrumpierten Staatsapparat aufzubauen“.