Wie Angehörige den ersten Schock bewältigen - Experte für Vermisstenfälle gibt Erste-Hilfe-Tipps für den Notfall

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Getty Images / PrathanChorruangsak

Jedes Jahr werden mehr als 120.000 Bundesbürger, davon mehr als 90.000 Kinder und Jugendliche, bei der Polizei als vermisst registriert. Für die rund 500.000 betroffenen Angehörigen gibt es in Deutschland fast keine Unterstützung. Experte für Vermisstenfälle Peter Jamin gibt Erste-Hilfe-Tipps gegen organisatorisches und psychisches Chaos.

Polizei informieren

Wenn Sie ein kleines Kind vermissen oder den Verdacht haben, dass ein vermisster Jugendlicher oder Erwachsener einem Verbrechen oder einem Unfall zum Opfer gefallen sein könnte oder Suizid-Gedanken hegt, wenden Sie sich unter Telefon 110 oder persönlich an die nächste Polizeidienststelle.

Ruhe bewahren

Wer feststellt, dass sich ein Angehöriger nicht mehr meldet, gerät schnell in Panik. Wer überlegt handelt, kann sich selbst und auch der Polizei bei der Suche nach der vermissten Person die Arbeit erleichtern. Überlegen Sie in aller Ruhe, wo sich die vermisste Person aufhalten könnte. Überdenken Sie das letzte Gespräch mit dem Vermissten; vielleicht ergibt sich daraus ein Hinweis auf den Aufenthaltsort.

Persönliches Engagement

Das persönliche Engagement bei der Suche nach Vermissten ist wichtig. Die Polizei kann u. a. aus personellen Gründen nur in seltenen Fällen eine Suchaktion unternehmen. Umfangreiche Suchaktionen, wie die nach dem sechsjährigen Autisten Arian in Bremervörde kommen selten vor. Darum bemühen Sie sich bitte im Kreis Ihrer Familie nach Lösungen zu suchen und die Suche selbst in die Hand zu nehmen.

Rundruf starten

Rufen Sie zunächst Verwandte, Bekannte, Arbeitskollegen oder Freunde der vermissten Person an. Vielleicht können diese Hinweise über den Verbleib geben und – falls es notwendig ist – bei der Suche helfen. Erkundigen Sie sich, ob ihnen etwas Ungewöhnliches an dem Verhalten des Gesuchten aufgefallen ist. Persönliche Aufzeichnungen oder Adressbücher können Hinweise enthalten, denen Sie nachgehen können. Sicherheitshalber kann auch in den Krankenhäusern der Stadt nachgefragt werden, ob der Angehörige vielleicht nach einem Unfall eingeliefert wurde.

Vermisstenanzeige aufgeben

Sind Sie sich sicher, dass Ihr Angehöriger nach den eigenen Nachforschungen nicht mehr auffindbar ist, dann gehen Sie auf jeden Fall zur Polizei. Geben Sie eine Vermisstenanzeige auf, wobei Sie hier den Beamten so viele Informationen wie möglich geben sollten. Schreiben Sie schon zu Hause alle wichtigen persönlichen Daten (u. a. Alter, letzte getragene Kleidung, besondere Kennzeichen) des Vermissten und andere wichtige Hinweise (etwa letzter bekannter Aufenthaltsort) für die Polizei auf einen Zettel.

Foto vervielfältigen

Spuren, wie Fingerabdrücke auf einem benutzten Glas, Haare des Vermissten in der Haarbürste, für die Polizei aufheben. Bei der Suche nach Vermissten sind Fotos der gesuchten Person besonders wichtig. Lassen Sie im Fotogeschäft von einem Foto, auf dem das Gesicht gut zu erkennen ist, Abzüge oder eine CD anfertigen. Geben Sie das Originalfoto möglichst nicht aus den Händen. Die Person auf dem Foto sollte möglichst genau so aussehen wie kurz vor seinem Verschwinden. Keine Fotos, die etwa mit Photoshop bearbeitet wurden.

Suchplakate aufhängen

Machen Sie die Öffentlichkeit zu Ihrem Helfer: Hängen Sie kleine A4-Plakate oder Handzettel mit dem Foto des Vermissten an den Örtlichkeiten und Wegen aus, wo er sich zuletzt aufgehalten haben könnte. Neben dem Foto sollte das Suchplakat eine kurze Personenbeschreibung enthalten, die Umstände des Verschwindens sowie Ihre Telefonnummer oder die der zuständigen Polizeibehörde. Als Kopfzeile des Suchplakates sollte das Wort „Vermisst!“ stehen.

Bei Busfahrer nachfragen

Bitten Sie gegebenenfalls auch Taxi-, Straßenbahn- und Busfahrer, ein Suchplakat in ihren Fahrzeugen anzubringen. Auch an Plätzen mit viel Publikumsverkehr, wie Bahnhöfe, Haltestellen, Einkaufszentren etc. sind dafür gut geeignet. Bei privaten Gebäuden, wie Kaufhäuser, benötigen Sie die Genehmigung der Geschäftsleitung.

Medien ansprechen 

Wenden Sie sich gerne auch an die lokalen und regionalen Zeitungen, Anzeigenblätter, Radio- und Fernsehsender sowie Internet-Redaktionen. Hilfreich sind auch Vermisst-Initiativen im Social Media oder richten Sie einen eigenen Vermisst-Account für die Suche nach ihrem Angehörigen ein.

Organisationen ansprechen

Wenden Sie sich an Institutionen oder Organisationen, bei denen sich die vermisste Person vielleicht aufhalten könnte. Fragen Sie beispielsweise in Obdachlosenheimen und bei Bahnhofsmissionen nach. Bei vermissten Jugendlichen sind Ihre Anlaufstellen neben Polizei, Schule, Jugendamt und Jugendzentren sicherlich auch Klubs und ähnliche Treffpunkte.

Arbeitgeber informieren

Klären Sie wichtige organisatorische Fragen mit Arbeitgeber, Behörden und Institutionen. Informieren Sie den Arbeitgeber, damit die vermisste Person nicht die Arbeitsstelle verliert. Oft besteht die Möglichkeit, zunächst eine (auch unbezahlte) Urlaubsregelung zu vereinbaren.

Krankenkassenstatus klären

Die Absprache mit der Krankenkasse ist besonders wichtig, denn der Vermisste sollte weiterhin krankenversichert bleiben. Er könnte ja einem Unfall zum Opfer gefallen sein. Für Angehörige, die über den Vermissten mitversichert sind (z. B. Ehefrauen und Kinder), ist auch die Frage des eigenen Versicherungsstatus umgehend zu klären. Der Vermisste sollte ebenfalls rentenversichert bleiben.

 

Wirtschaftliche / rechtliche Situation klären

Häufig muss die wirtschaftliche Situation der Familie geklärt werden. Um zum Beispiel bei Banken die Behandlung eventueller Kredite oder Hypotheken ohne Vollmacht regeln zu können, besteht die Möglichkeit, eine sogenannte „Abwesenheitspflegschaft“ beim Amtsgericht zu beantragen. Rechtsanwälte und Beratungsdienste der Gerichte geben darüber Auskunft. Informieren Sie auch Vermieter von Wohnungen und Versicherungen rechtzeitig.

Manchmal muss auch eine Entscheidung über ein mit dem Vermissten verschwundenes Auto getroffen werden. Wenden Sie sich schriftlich an die jeweiligen Einrichtungen, denn dann müssen etwa die Behörden Ihre Anfrage in einem angemessenen Zeitraum beantworten. Notieren Sie sich die geführten Telefonate mit Zeitangabe, Inhalt und dem Namen des Gesprächspartners.

 

Behörde ansprechen

Wenden Sie sich je nach Bedarf und Sachlage und vor allem auch bei finanziellen Problemen an das Sozialamt Ihrer Gemeinde.

Politiker, Parteien ansprechen

Sollten Sie keine Unterstützung bei einer Behörde finden, wenden Sie sich per E-Mail oder mit einem persönlichen Schreiben per Einschreiben an den Bürgermeister bzw. Oberbürgermeister ihrer Stadt oder Gemeinde und bitten um Unterstützung. Suchen Sie gerne auch Rat und Unterstützung bei Parteien und Politikern, auch wenn diese sich in der Regel für nicht zuständig erklären.

Entlassen Sie Politik und Gemeindeverwaltung nicht aus ihrer Verantwortung. Konfrontieren Sie die Institutionen vor allem auch schriftlich mit ihren Problemen und fordern Sie Lösungen ein. Sollten man ihnen nicht helfen, wenden Sie sich schriftlich an den Petitionsausschuss des Rates der Stadt.

Hartnäckig bleiben

Auch wenn man sich bei den Stadt- und Gemeindeverwaltungen kaum mit der Vermisst-Problematik auskennt und es noch keine speziell ausgebildeten Vermisst-Berater gibt, so kann man ihnen zumindest in Einzelfragen behilflich sein. Lassen Sie sich nicht mit der Begründung abweisen, die Polizei und nicht die Stadtverwaltung sei zuständig. Die Polizei ist aufgrund ihrer personellen Situation und fehlender Ausbildung in der Regel meist nicht in der Lage, den Angehörigen von Vermissten umfassend in sozialen, wirtschaftlichen oder finanziellen Fragen zu helfen. Wenn Politiker es wollen, können sie aber Angehörigen helfen: In Emden gibt sogar die einzige „Kommunale Beratungsstelle für Angehörige von Vermissten“ in ganz Deutschland.

Stadtrat um Hilfe bitten

Politiker Ihres Stadtteils und Ihrer Gemeinde sind ebenfalls gute Ansprechpartner – sie wollen ja von Ihnen irgendwann einmal wiedergewählt werden. Wenden Sie sich mit der Bitte um Unterstützung ruhig an die für Ihren Stadtteil zuständigen Ratsmitglieder. Sie verfügen größtenteils über gute Beziehungen zur Stadt- oder Gemeindeverwaltung und können Ihnen so manche Tür öffnen und vielleicht auch den einen oder anderen Rat geben. Die Adressen der Ratsmitglieder erhalten Sie über die Stadtverwaltung (telefonisch oder im Internet). Helfen können gelegentlich auch die Abgeordneten der Landtage und des Bundestages sowie die Geschäftsstellen der in den Parlamenten vertretenen Parteien. Die Adressen liegen bei der Stadt- oder Gemeindeverwaltung vor.

Behördennummer 115

Die 115 ist der Kundenservice der öffentlichen Verwaltung. Sie vernetzt teilnehmende Servicecenter der Kommunen, Länder und Bundesbehörden durch ein gemeinsames Wissensmanagement. Dadurch schafft sie mehr Bürgernähe und erleichtert Bürgerinnen und Bürgern den Zugang zur Verwaltung. Die aufwendige Suche nach Zuständigkeiten und einzelnen Telefonnummern entfällt, zusätzliche Behördengänge werden verzichtbar.

An der 115 beteiligen sich hunderte Kommunen, zahlreiche Landesbehörden sowie umfassend die Bundesverwaltung mit über 88 Behörden und Institutionen. Lassen Sie sich nicht mit dem Hinweis abwimmeln, die Polizei allein sei für Vermisste zuständig. Bestehen Sie auf einen kompetenten Gesprächspartner für ihr Anliegen in der Verwaltung ihrer Stadt oder Gemeinde.

Kirche u. a. kontaktieren

Wenden Sie sich auch an die Kirchen oder kirchliche Einrichtungen. Die Kirchen ignorieren zwar auch die Vermissten-Problematik, aber mit etwas Glück findet man hier vielleicht einen guten Rat oder wenigstens einmal einen geduldigen Zuhörer.

Helfer für Einzelfragen

In der Bundesrepublik gibt es viele Organisationen, die für Angehörigen von Vermissten in speziellen Fragen hilfreich sein können. Kostenlose allgemeine Beratungsstellen sind meist in jeder Stadt bzw. Gemeinde vorhanden. Die Adressen erhalten Sie bei der Stadt- oder Gemeindeverwaltung und manchmal auch in der örtlichen Polizeibehörde.

Beratungs- und Hilfsdienste, die ihnen unter Umständen in Einzelfragen weiter helfen können: Bahnhofsmissionen, Sozialdienste, Verbraucher- und Schuldnerberatung, Jugend- und Eltern-Beratungsdienste, Lebensberatungen, Schulpsychologische Beratung, Prozesskosten-/Beratungshilfe der Gerichte, Telefonseelsorge, Zeugnistelefone, Streetworker, Frauenhäuser, Eltern- und Sekten-Initiativen, Suchtberatung wie viele andere Selbsthilfegruppen.